Ist die Linke tot?

Auch wenn das Rettende in der Gefahr bekanntlich wachsen soll, macht es trotz der multiplen Krisen unserer Gegenwart gerade nicht den Eindruck, wütende Sozialproteste würden die staatliche Ordnung und die Träger der Krisenpolitik herausfordern. Der revolutionäre Impuls einer radikalen Veränderung findet keinen Halt selbst in der Situation der sozialen Krisen. Wie aber hat die Linke, verstanden als gesellschaftliche Bewegung, ihre Relevanz verloren?

Ob die Linke tot ist, wer sie ermordete und ob es Chancen auf eine Wiederbelebung gibt oder sie dazu verdammt ist, als ein Zombie unter den Lebenden zu wandeln: All diese Fragen stellte ein weiterer informativer Abend in der Infokneipe.

Zunächst die gute Nachricht: Der in der Wüste rollende WM-Ball hat die Zahl der Gäste nicht merklich vermindert. Die schlechte Nachricht betraf hingegen die Antwort auf titelgebende Frage des Abends.

Vom Ausbleiben der Wut

In einer Welt, in der die Armut mehr und mehr wächst, die Ausbeutung zunimmt und der Reichtum Einzelner immer mehr wächst, hat die Linke offensichtlich ihre Stimme verloren. Weder lassen sich die vielen Kämpfe verschiedener Gruppen koordinieren, noch über ein verbindendes Ziel eine gemeinsame Organisationsform finden. Die linken Kämpfe bleiben verschiedene Projekte mit unterschiedlichen Ziele, die sich nicht verbinden, sondern eher misstrauen. Wenn wir als Definition der Linken die Klassenfrage begreifen, den Gegensatz von Kapital und den Arbeitenden, dann stellt sich nur umso mehr die Frage, wie es die linke Bewegung vermochte, sich dermaßen ins Abseits zu manövrieren.

Eine Antwort zielt auf die politische Diskurslandschaft moderner Medien, in der das Emblem „links“ kaum einen Eigenwert besitzt und selbst offenkundig grün-liberalen Epigonen wie Mario Sixtus offensteht. Aus Sicht einer selbstbewussten linken Bewegung ist diese Übernahme ein Problem, da sich so das eigentliche linke Projekt verstellt.

Verliert sich die Linke in identitätspolitischen Kulturkämpfen und wird so zu einem unnötigen Wurmfortsatz bürgerlich-liberaler Politik? Was ist die eigentliche Aufgabe einer linken Bewegung, was hat die Linke der 20er und 30er Jahre anders gemacht, um soziale und politische Relevanz zu gewinnen? Braucht es einen zentralen Kampf oder derer viele an unterschiedlichen Stellen? Und: Lassen sich die Kämpfe tatsächlich verbinden, oder reiben sie sich am Ende doch und behindern sich gegenseitig?

Die Krise als Motor

Die Analyse des Status quo lässt es eigentlich als unmöglich erscheinen, dass Deutschland und Europa nicht in einem Meer aus sozialen Protesten versinken. Es sind nicht nur die steigenden Preise lebensnotwendiger Güter von Lebensmitteln bis hin zu Mieten und Energie, sondern auch die Politik der Umverteilung von unten nach oben. In der Krise werden die Reichen offenkundig reicher, und die Armen, sofern überhaupt möglich, noch ärmer. Die Profiteure der Krise, Unternehmen spezifischer Sektoren wie der Energie und der Immobilienwirtschaft, aber auch die Rüstungsindustrie, machen extreme Gewinne, ohne dass der Staat Anstalten zeigen würde, auch nur Teile der Gewinne abzuschöpfen. Stattdessen wird die Allgemeinheit herangezogen, um mit Steuermitteln strauchelnde Unternehmen zu retten. Allein die Dividendenausschüttungen in diesem Jahr hätten eigentlich einen breiten Sturm der Entrüstung auslösen müssen.

An all diesen Konjunktiven wird deutlich: Haben sie nicht. Natürlich gab es Proteste, eher im mittleren als in großem Stil. Letztlich hat eine mediale Kampagne den Sozialprotesten bereits zu Beginn das Genick gebrochen: Da die extreme Rechte die Verarmung der Menschen als ihr Thema vorschützte, musste sich jede weitere Protestaktion umständlich rechtfertigen und von rechten Spektren distanzieren. Aber die Ängste waren geschürt, auf den Demos zusammen mit Rechten zu marschieren … Die Gleichsetzung von existentiellen Sorgen und dem Dunstkreis der besorgten Bürger tut ihr übriges, die Proteste klein zu halten. In Zeiten der größten sozialen Krisen schafft es die Linke nicht, zum Sprachrohr zu werden: Wie könnte sich ihr Tod klarer zeigen?

Konturen des revolutionären Subjekts

Das Bild der linken Bewegungen wird stattdessen durch Kulturkämpfe und Identitätspolitiken geprägt, in der sich die Unterschiede liberaler, grüner und linker Ansätze fast vollständig abgeschliffen haben. So bleibt die Frage: Was  nützt ein Sozialismus in Gedanken?

Die sozialistische Neuordnung vor Augen, macht weder eine Politik der Identitäten noch eine sozialstaatliche Verwaltung des Elends einen Unterschied. Zwar mag dies als Argument überzeugen, dennoch hat der Fokus auf die Klassenfrage selbst Potentiale der Spaltung und Hemmung, hierarchisiert sie die verschiedenen linken Projekte. Die Kritik am Wohlfahrtsstaat verliert dann einen tragenden Moment, wenn die Betroffenen nur noch weiter in ihr Elend geworfen werden.

Das Elend führt in unserer Welt nicht unbedingt in die Utopie einer besseren Welt, sondern zur Suche nach Schuldigen, die dann zumeist in noch Schwächeren gefunden werden. Gewiss, es gilt die Strukturen des Kapitalismus in ihrer Verantwortung für die Ausbeutung und Verelendung zu begreifen und hier die Kämpfe zu führen: Die Frage ist nur, wie?

Die Antwort am Abend in der Infolneipe bestand darin, den Blick für das Wesentliche zu schärfen in einem Plädoyer für die Diktatur des Proletariats. Als Bruch mit den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen führt dies weg von rechtsstaatlicher Bürgerlichkeit hin zu einer tiefgreifenden politischen und sozialen Transformation. Um den Kapitalismus zu überwinden, haben sich Reformbemühungen als unfähig erwiesen: Das Zugeständnis des Kapitals, nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise viel von seinen Profiten umzuverteilen und damit die gesellschaftliche Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlichen Modellen zu verringern, wurde seit den 80er Jahren aufgekündigt. In diesem Augenblick des sich aufdeckenden Klassengegensatzes scheint das revolutionäre Subjekt aber so fern wie eh und je. Das Proletariat ist nicht gespalten, sondern zerstreut und in gegenseitigen Abhängigkeits- und Ausbeutungsregimes geordnet. Die Rolle eines kollektiven Subjekts im Kampf um politischen Einfluss scheint mithin fern. Am Abend wurden zwei Essays verhandelt, die in kleineren Beiträgen in den nächsten Tagen einzeln aufgegriffenen werden sollen.

Text: Tobias Braun, Bild: Streik in Minneapolis 1934 (Ausschnitt), gemeinfrei auf Wikipedia, veröffentlicht unter der Lizenz Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0)