„Radikalenerlass“ und Berufsverbote: Auch Tübingen zog nun nach

Berufsverbote GerechtigkeitBei seiner letzten Gemeinderatssitzung hat das Konstanzer Stadtparlament mit deutlicher Mehrheit dafür plädiert, die Landesregierung aufzufordern, die damals von Berufsverboten Betroffenen zu rehabilitieren und auch zu entschädigen. Nun hat sich der Tübinger Gemeinderat vergangene Woche ebenfalls klar dafür ausgesprochen. Hier die Rede dazu von Gemeinderätin Gerlinde Strasdeit in leicht gekürzter Form.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir Linken haben die Initiative ergriffen für diesen interfraktionellen Antrag und bedanken uns für die zustimmenden Rückmeldungen, aus anderen Fraktionen. (Anm.d.Red.: Den Antrag eingebracht haben Linke, SPD und die FRAKTION).

Der „Radikalenerlass“ gilt bis heute als eine der umstrittensten politischen Maßnahmen aus der Zeit der sozial-liberalen Koalition. Mit ihrem Beschluss wollten Bund und Länder 1972 den Eintritt von politischen Extremisten in den öffentlichen Dienst verhindern. Sämtliche Bewerberinnen und Bewerber wurden fortan pauschal durch eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüft, – ob ihre politischen Aktivitäten auf eine verfassungsfeindliche Einstellung schließen ließen. Vor allem Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen waren von der Maßnahme betroffen, was für viele einem Berufsverbot gleichkam. In der Folgezeit wurden nach 1972 rund 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet und offiziell 1.256 Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt sowie 265 Beamte entlassen.

Auch für mehr als 30 Betroffene, die in Tübingen studiert, gelebt und gearbeitet haben, hatte der Erlass schwerwiegende Folgen. Einige der Tübinger Betroffenen haben aktiv in der Kommunalpolitik mitgewirkt und jahrelang in Ortsbeiräten, im Tübinger Gemeinderat und Kreistag mitgearbeitet (…)

In Baden-Württemberg wurde der Schiess-Erlass vom Oktober 1973 „mit besonderer Härte“ praktiziert – so Ministerpräsident Kretschmann. Der nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess benannte Erlass jährt sich im Oktober zum 50. Mal.

Willy Brandt bezeichnete den „Radikalenerlass“ rückblickend als einen Fehler, wies aber auch auf einen sonst selten genannten historischen Hintergrund hin: Ohne die Neue Ostpolitik und die innenpolitische „Schlacht, die um sie geführt wurde“, sei der „Radikalenerlass“ nicht zu verstehen, so Brandt. War die Maßnahme also auch ein Versuch, den innenpolitischen Streit über die Politik der Verständigung mit den osteuropäischen Staaten durch eine Maßnahme zur Extremistenabwehr im eigenen Land zu entschärfen?

Schon vor 2021 hat eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kultur gemeinsam einen Aufruf unterzeichnet: den Radikalenerlass generell offiziell aufzuheben, die Betroffenen vollumfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen und die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur wissenschaftlich aufzuarbeiten. (…)

[the_ad id=“94028″]Der sogenannte „Radikalenerlass“ hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Einige Menschen wurden in ihrer Existenz bedroht. Eine offene, tolerante, demokratische Gesellschaft braucht den uneingeschränkten Erhalt der Grundrechte. Nach nunmehr 50 Jahren ist es an der Zeit, das Kapitel Berufsverbote endgültig abzuschließen. Die Praxis der Berufsverbote wurde 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation und 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offiziell als Unrecht verurteilt. Von 2012 bis 2021 haben die Landesparlamente von Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin Beschlüsse zur Aufarbeitung gefasst, gegenüber den Betroffenen kollektiv Entschuldigungen ausgesprochen bzw. Rehabilitierung zugesagt und zum Teil auch Entschädigungen angekündigt.

In Baden-Württemberg hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärt, den Abschluss eines an der Universität Heidelberg laufenden Forschungsprojekts zum „Radikalen- und Schiess-Erlass“ abwarten zu wollen. Die Ergebnisse dieser von 2018 bis 2021 mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsministeriums durchgeführten Studie liegen seit Mai letzten Jahres in Buchform vor. Sie bestätigen: damals wurde politisch „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“. Rechtlich wurde die Praxis „als Einschränkung der Grundrechte verurteilt. Sie war von Anfang an als rechtswidrig einzustufen“, insbesondere weil sie „mit der ILO-Konvention Nr. 111 nicht übereinstimmt“. Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen der Berufsverbote durch Kürzungen bei ihren Ruhegehältern oder sogar Altersarmut bis heute. Ihre materiellen Nachteile müssen endlich ausgeglichen werden.

Es ist an der Zeit, dass auch in Baden-Württemberg politisch umgesetzt wird, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt und die Wissenschaft bestätigt hat. In Heidelberg und Konstanz haben die Gemeinderäte mehrheitlich dem Anliegen zugestimmt. Tun Sie das bitte auch.

Anm.d.Red.: Für den Antrag 23 Stimmen, dagegen 4, Enthaltungen 7.

Text: Gerlinde Strasdeit
Symbolbild: Pixabay