Streubomben für die Ukraine missachten humanitäres Völkerrecht
Die Beschwichtigungen der USA und der Ukraine sind grob verharmlosend und irreführend. Das zeigt die Geschichte der Streubomben. Nicht explodierte Sprengkörper oder „Blindgänger“ aus Streubomben, welche die USA vor über fünfzig Jahren in Vietnam, Laos und Kambodscha sowie vor zwanzig Jahren im Irakkrieg eingesetzt hatten, fordern noch heute jährlich hunderte Todes- und Verstümmelungsopfer unter der Zivilbevölkerung der betroffenen Länder.
Humanitäre Hilfsorganisationen wie Handicap International, die sich bei der Räumung dieser Munition engagieren, rechnen mit bis zu weiteren fünfzig Jahren bis zu ihrer vollständigen Beseitigung. Eine ähnliche, möglicherweise jahrzehntelange Gefährdung droht der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Verantwortlich dafür ist zunächst die Streumunition, welche die russischen Angreifer seit Kriegsbeginn in hunderten wohldokumentierten Fällen, aber auch die ukrainischen Verteidigungsstreitkräfte in bisher noch deutlich geringerem Umfang einsetzten. Die jetzt von der Biden-Administration geplante Lieferung von Streubomben an Kiew wird die ukrainische Zivilbevölkerung noch stärker gefährden.
In der Realität lag die Blindgängerquote viel höher als nun angegeben
Bis zu 3,7 Millionen über zwanzig Jahre alte Streubomben mit je 72 oder 88 Sprengkörpern könnte das Pentagon der Ukraine zur Verfügung stellen. Die von Präsident Bidens nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan demonstrierte „Zuversicht“, von diesen insgesamt rund 300 Millionen Sprengköpfen würden lediglich „weniger als 2,35 Prozent“ als nicht explodierte Blindgänger liegenbleiben, ist grob verharmlosend und irreführend. Denn das wären immer noch rund sieben Millionen Blindgänger. Zudem sind die 2,35 Prozent das Ergebnis von Labortests. In realen Kriegen, in denen diese US-Streubomben in den letzten zwanzig Jahren zum Einsatz kamen – Irak, Libyen oder durch Saudiarabien im Jemen – lag die Blindgängerquote zwischen 20-40 Prozent.
Die Biden-Administration hat sich vor ihrer Entscheidung zur Lieferung von Streubomben an die Ukraine „schriftliche Zusicherungen“ des Verteidigungsministeriums in Kiew über die Verwendung dieser Bomben geben lassen, die der ukrainische Botschafter in Berlin, Oleksii Makeiev, am Wochenende so zusammenfasst:“Keine Nutzung auf russischem Gebiet; keine Nutzung in Stadtgebieten; strenges Monitoring der Einsatzzonen; Priorisierung dieser Zonen bei der Minenräumung; transparente Berichterstattung an Partner“.
Dokumentierte Einsätze in städtischen Zonen
Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksji Resnikow zitierte die Zusicherung seiner Regierung an Washington mit folgenden Worten:
„Streumunition wird nur auf Feldern eingesetzt werden, wo es eine Konzentration russischen Militärs gibt. Sie wird genutzt, um Verteidigungsstellungen des Feindes mit minimalem Risiko für das Leben unserer Soldaten zu durchbrechen. Die Ukraine wird den Einsatz dieser Waffen und ihrer Einsatzorte genau dokumentieren. Auf Grundlage dieser Dokumente werden nach der Beendigung der Besatzung unseres Staatsgebietes und nach unserem Sieg diese Gebiete für Minenräumung priorisiert. Dies wird uns ermöglichen, das Risiko von unexplodierten Submunitionen zu eliminieren.“
Nach allen bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz von Streubomben und der Beseitigung von Blindgängern im bisherigen Verlauf des Ukrainekrieges sowie während und nach vergangenen Kriegen sind größte Zweifel an diesen Zusicherungen angebracht. Erstens erfolgten die bislang dokumentierten Einsätze von Streubomben durch die ukrainischen Streitkräfte überwiegend gegen städtische Zonen zur Bekämpfung der dortigen russischen Besatzungssoldaten. Dabei kam es zu Opfern unter der ukrainischen Zivilbevölkerung, beispielsweise beim von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierten Einsatz zwischen März und September 2022 gegen die damals von russischen Truppen besetzte ostukrainische Stadt Izium.
Zweitens wurden diese Zusicherungen in jenen wenigen Kriegen der Vergangenheit nicht eingehalten, in denen es überhaupt Zusagen der einen und/oder anderen Konfliktpartei gab zur Dokumentation der genauen Einsatzorte und Ziele von Streumunition oder auch von Land- und Antipersonenminen (zum Beispiel in den Kriegen in Bosnien und Kroatien Anfang der 1990er Jahre) sowie zur Räumung von Blindgängern.
Spanische Verteidigungsministerin ist gegen die Lieferung
Die Entscheidung der Biden-Administration zur Lieferung von Streubomben an die Ukraine kritisieren nicht nur eine Reihe demokratischer Abgeordneter und Senatoren im US-Kongress, sondern international auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sowie NATO-Verbündete wie Spanien und Großbritannien, die sich ansonsten an der Lieferung von Waffen und Munition an die Ukraine beteiligen. Die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles erklärte, sie sage zwar „Ja zur legitimen Verteidigung der Ukraine“, aber „Nein zu Streubomben“. Ihr Land vertrete den Standpunkt, dass bestimmte Waffen und Bomben unter keinen Umständen geliefert werden dürften.
Die deutsche Bundesregierung zeigte hingegen Verständnis für die Entscheidung der USA. In der Ukraine bestehe „eine besondere Konstellation“ da „die Ukraine eine Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung einsetzt“, erklärte der Berliner Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Zudem habe „Russland bereits in großem Umfang Streumunition eingesetzt“.
Die deutsche Bundesregierung missachtet das humanitäre Völkerrecht und ihre Verpflichtungen
Mit dieser Haltung missachtet die Bundesregierung das humanitäre Völkerrecht. Denn dessen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung gelten unterschiedslos sowohl für den Angreifer wie für den Angegriffenen in einem Krieg. In der Logik ihrer Position im aktuellen Fall könnte die Ampelkoalition demnächst auch die bereits im Februar von der Regierung Selensky geforderte Lieferung von Phosphorwaffen an die Ukraine rechtfertigen, sollte Russland derartige Waffen einsetzen.
Zudem missachtet die Bundesregierung ihre Verpflichtungen aus dem Oslo-Abkommen zum Verbot von Streumunition. Danach müsste die Bundesregierung „sich nach besten Kräften bemühen, Staaten, die dem Abkommen nicht angehören (wie die Ukraine, die USA und Russland, A.Z), vom Einsatz von Streumunition abzubringen“ und „diese Staaten ermutigen, diesem Abkommen beizutreten und es zu ratifizieren“.
IKRK: Mehrfache Explosions- oder Splitterverletzungen
Menschen, die die Explosion einer Submunition überleben, haben wahrscheinlich schwere, oft mehrfache Explosions- oder Splitterverletzungen. Zu diesen Verletzungen gehören nicht nur Schäden an lebenswichtigen Organen, sondern auch der Verlust von Händen und Füßen. Auch Augenverletzungen sind häufig.
Hier zur Dokumentation des IKRK.
Text: Andreas Zumach
Symbolbild: Pixabay