„Wer sich mit Akteuren wie KenFM gemein macht, der weiß, was er tut“ (I)

"The New World Order is the Enemy of Humanity" artwork on Hanbury Street.jpgDie Nachdenkseiten (NDS) sind ein bei Gewerkschafts-Linken und in klassisch linken Kreisen sehr einflussreiches und weit verbreitetes Internetportal. Gegründet unter anderem von Albrecht Müller, kommt das Projekt von links, hat sich jedoch nach und nach bis heute zu einem Querfront-Medium gewandelt, „das die Bezüge zur radikalen Rechten zwar indirekt, aber ganz bewusst herstellt“. Zudem dienten die NDS als „Scharnier für Verschwörungstheorien“. So lauten einige der Befunde, die der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden in einem Gutachten präsentiert. Wolfgang Storz interviewte ihn per E-Mail.

Teil 1/3

Wolfgang Storz: Als die Nachdenkseiten (NDS) Ende 2003 starteten, folgten die meisten Medien bei wichtigen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialthemen einem marktradikalen Mainstream. Die NDS wollten dieser einseitigen Berichterstattung kritisches Wissen entgegensetzen. Aufklärung war also Motiv der Gründung. Ist dieser Rückblick aus Ihrer Sicht korrekt?

Markus Linden: Aus der Perspektive der Nachdenkseiten mag das richtig sein und es entspricht zum Teil auch der Arbeit in den ersten Jahren des Portals. Nun ist aber die Grenze zwischen Aufklärung und Ideologie fließend. Sicher gab es im Zuge der Agenda 2010 Leerstellen. Die Arbeit der Hartz-Kommission, aus der die Regierung Schröder ein Mandat für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe abgeleitet hat, ist ein Beispiel für den tatsächlich vorhandenen Druck in Richtung auf eine Vermarktlichung der existierenden Sozialsysteme, dem auch die Gewerkschaften nachgegeben hatten. So waren die Diskussionen über die Agenda zwar heftig, aber diese Proteste fanden damals im Parlament keine angemessene Opposition. Auf derartige Prozesse der Deparlamentarisierung und wirtschaftsliberalen Konsensualisierung reagierten die Nachdenkseiten medial.

Wolfgang Storz: Das ist doch positiv, also ein Verdienst der Nachdenkseiten, im Sinne dieser Demokratie sogar.

Markus Linden: Na ja, dieses Portal war aber von Anfang an programmatisch eindimensional unterwegs. Man folgte einer traditionell keynesianischen Auffassung, was legitim und in Ordnung ist. Die Existenz von Meinungen, die von der eigenen abwichen, wurde jedoch schon zu dieser Zeit sehr stark auf eine angeblich gesteuerte medial indizierte Verdummung zurückgeführt. Mit diesem Totschlagsargument wurde schlichtweg alles erklärt. Denn Albrecht Müller neigt als Kampagnenspezialist dazu, in allem eine Kampagne zu sehen. Dabei war es eine Mischung aus Zeitgeist, wahrgenommenem ökonomischem Druck und geschickter Politiktaktik von Gerhard Schröder, die zur Agenda 2010 führte. Die Nachdenkseiten wollten schon zu Beginn ihrer Tätigkeit nicht sehen, dass es beträchtliche Bevölkerungsteile gab, die Arbeitssuchende und Sozialleistungsempfänger unter verstärkten Leistungsdruck setzen wollten. Dass mit der Agenda 2010 im Ergebnis vor allem die Mittelschicht belastet und teilweise prekarisiert wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Wolfgang Storz: Nun haben Sie für das Zentrum Liberale Moderne ein Gutachten über die NDS erstellt. Zur Einstimmung eine kleine Auswahl Ihrer Befunde: Sie reihten sich mit ihrer Kritik an Medien, Politik, USA, Nato und Corona „in eine fundamentaloppositionelle Querfront ein“. Es gebe „keine Berührungsängste zu rechtspopulistischen AkteurInnen“, es handle sich heute um „ein professionell gemachtes Desinformationsmedium“. Sie seien „ein Scharnier für verschwörungstheoretisches Denken“. Zugleich seien die NDS unverändert politisch klassisch links verortbar. Zunächst die Frage nach Ihrem Vorgehen: Wie belegen Sie das?

Markus Linden: Ich habe nicht quantitativ, sondern qualitativ gearbeitet. Es erfolgte also keine direkte Zählung und computergestützte Auswertung der Inhalte, sondern eine repräsentative Auswahl einschlägiger Beiträge, die ich inhaltsanalytisch ausgewertet habe. Mithin habe ich mich klassischer Methoden bedient. Dazu gehört, das Umfeld der Nachdenkseiten zu beleuchten. Die zentralen Macher treten ja auch in anderen Alternativmedien auf und laden selber zu Veranstaltungen ein. Ich beschäftige mich seit 2013 wissenschaftlich mit der Alternativmedienszene, das Feld ist mir also geläufig. Den Machern der Nachdenkseiten sind die Zusammenhänge zwischen einzelnen Portalen mindestens so bewusst wie mir.

Markus Linden lehrt als außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Seine Promotion zum Thema „Politische Integration im vereinten Deutschland“ (2006) und die Habilitation über „Einschluss und Ausschluss durch Repräsentation“ (2014) sind als Monografien im Nomos-Verlag erschienen. Linden forscht und publiziert zum Thema „Theorie und Empirie der Demokratie“. Hierbei bilden die digitale Öffentlichkeit und die Geistesgeschichte radikaler Gegenwartsbewegungen aktuelle Schwerpunkte.

Dr. Wolfgang Storz (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau.

Wolfgang Storz: Die NDS sind also nur als Teil einer eigenen Medienwelt zu verstehen?

Markus Linden: Ja, davon gehe ich aus. Deshalb lag ein Fokus meiner Untersuchung auch auf den Vernetzungen mittels überlappender Autorenschaft, gegenseitigem Zitieren, Interviewen und Verlinken. Es ist eine eigene Öffentlichkeit, die dort existiert, und vom vielbeschworenen „Mainstream“ nicht wirklich wahrgenommen wird. Da ich wissenschaftlich aus der Politischen Theorie und Politischen Kulturforschung komme, ist diese Parallelwelt einerseits interessant und andererseits auch angestammtes Beobachtungsterrain. Sehr hilfreich ist, dass die Nachdenkseiten eine begrenzte Anzahl an Artikeln publizieren und die Inhalte, je nach Autor oder Autorin, teilweise sehr vorhersehbar sind. Immer wieder tauchen dieselben Argumentationsmuster auf. So kann man beispielsweise recht schnell mittels des hauseigenen Archivs und einer gewöhnlichen WayBackMachine ganze Jahrgänge dahingehend durchsehen, welche Themen überhaupt eine Rolle spielten. Die Nachdenkseiten haben da ganz klare Schwerpunkte. Autoren wie Müller, Riegel oder Berger schreiben quasi immer auf dieselben Grundthesen hin.

Wolfgang Storz: Kann auf Basis Ihrer Befunde gesagt werden: die Arbeit der NDS reicht von sachlich radikaler Detailkritik bis hin zu fundamentalistischer antipluralistischer und antidemokratischer Systemkritik?

Markus Linden: Genau! Das ist der Clou in der gesamten Alternativmedienszene, also von denjenigen, die sich explizit in Opposition zur sonstigen Presse sehen — zumindest ist es der Clou der etwas „anspruchsvolleren“ Portale. Man pickt sich eine kleine bis mittelgroße Sache heraus, um sie dann in einen größeren Kontext einzubetten. Normal und seriös funktioniert der induktive Schluss so: Viele Einzelphänomene werden zu einer These zusammengeführt, diese These wird dann aber wieder abgeglichen mit möglichen gegenteiligen Erklärungen. Bei den Nachdenkseiten ist das anders: Bei ihnen reichen wenige Beispiele, um daraus das große Narrativ vom finanziell und medial induzierten Betrug an den Massen bilden zu können. Dieses Narrativ ist für die Macher aber gleichzeitig ein feststehendes, vorgefasstes Axiom, also die unbestreitbare Wahrheit, die keines weiteren Beweises bedarf. Und diese Wahrheit wird nicht hinterfragt, sondern instrumentell gestützt. Immer wieder müssen als Belege dafür dieselben Beispiele herhalten, etwa beim Thema Ukraine-Konflikt ein abgehörtes Telefonat von Victoria Nuland. Natürlich belegt das Telefonat, dass die USA diplomatischen Einfluss auf die Geschehnisse in der Ukraine im Jahr 2014 ausübten. Daraus wird dann aber die ganz große Theorie vom fremdgesteuerten Regime-Change gesponnen. Die Existenz einer von bedeutenden Teilen der Bevölkerung getragenen demokratischen Revolution in der Ukraine wird schlichtweg ignoriert.

Wolfgang Storz: Ich zitiere noch einmal aus Ihren Befunden: Desinformation, fundamental, rechtspopulistisch — und klassisch links. Wie passt das denn zusammen?

Markus Linden: Der Rechtspopulismus wird von den Nachdenkseiten eher unter der Hand gestützt, und zwar in Form von Verlinkungen oder instrumentellem Lob — etwa jüngst für Alexander Gauland. Die Nachdenkseiten erfüllen jedoch alle anderen Kriterien einer sich selbst fundamental-oppositionell verstehenden Medienlandschaft. Dabei geht man allianzbildend vor. Unter dem populistisch-systemablehnenden Grundnarrativ von der US-gesteuerten Medien- und Politiklandschaft werden verschiedene Aspekte genannt, die unterschiedliche Teile einer radikalen Systemopposition ansprechen: US- und NATO-Kritik, allgemeine Elitenkritik, Medienkritik und eine Kritik der Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzen sich. Diese Kritik ist immer fundamental, es gibt quasi keine Graubereiche. Diese werden nur angedeutet, um ihre Relevanz dann doch zu negieren.

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Weitere Informationen

  • Die Analyse von Markus Linden lesen Sie hier.
  • Weitere Informationen über die Arbeitsweise der NDS und eine juristische Auseinandersetzung, welche die Otto Brenner Stiftung und Wolfgang Storz erfolgreich gegen die NDS führten, finden Sie hier.

Text: Wolfgang Storz. Bild: @mearone „The New World Order is the Enemy of Humanity“ artwork on Hanbury Street, Brick Lane -London -StreetArt, Autor Bablu Miah, This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license. Quelle.
Dieses Interview erschien zuerst auf bruchstücke. Blog für konstruktive Radikalität, und zwar hier.