0² = 1 Hauch Wärme (32)

aus: Nebelhorn Nr. 55, Dezember 1985, von Jochen Kelter

Die Kameras sind abgeschaltet, die Werbezeiten im US-Fernsehen verhökert. Nun ist es an den Kaffeesatzdeutern der Gazetten, ihren Lesern die heiße Luft von Genf als Friedensbotschaft zu verkaufen. Bei den derzeitigen Außentemperaturen braucht schließlich auch das vorweihnachtliche Anzeigengeschäftt ein Minimum an Sinnstiftung.

Der Einzelhandel kennt da eine alte Einzelhändlerregel: Ohne Glockengeläut zur rechten Stund‘ bleibst Du sitzen auf dem ganzen Schund.

Da ist auch Franz Oexle, sinnstiftender Redakteur des Konstanzer „Südkurier“, gefordert. Der hat die Fäustlinge ausgezogen, sich die Schreibhände warmgerieben und am 22. November auf der ersten Seite getitelt:

„Ein Hauch Wärme aus Genf“. Der Franz hat bei kniffligen Themen eine Masche von früher drauf: Er ruft den Wettergott an, erklärt uns den Gang der Dinge hinieden mit jenem der dräuenden Wolken über uns. Scheint allerdings ein wenig eingerostet: „Trotz des frühen Wintereinbruchs im Herzen Europas gehen von Genf nicht viele, aber immerhin einige erwärmende Strahlen aus.“ Trotz Wintereinbruchs keine Wärme? Hoffentlich liest den Satz niemand zweimal.

Aber dann kommt er doch in Fahrt: „Dort, wo die Rhône den großen See hinter sich läßt, saßen keine Träumer am Tisch.“ Das sind sie, die Sätze die mich immer wieder an den Kiosk treiben, um den „Südkurier“ zu erstehen. Dort, wo der Rhein die goldene Schale des Sees verläßt, um kurze Zeit darauf in die Fluten des Untersees einzutauchen, sitzt ein Chefredakteur beim Kerzenlicht und malt aufs Papier ein Mondgesicht.

Doch was geschah, fragt sich der bleiche Leser bang, dort „am Tisch“ hinter dem „großen See“? „Die an den Schalthebeln sitzenden Staatsmänner kennen sich jetzt besser.“ Gospodin Gorbatschow popelt in der Nase, you know. Mr. Reagan, wissen Sie, bekam dauernd den Schalthebel zwischen die Beine. „Doch dies war … die Überraschung des Gipfeltreffens: Beide hörten einander zu“. Wo sie doch sonst immer gleich den Fernseher anmachen und nach der Rassel greifen, Gorbi und „der lange Zeit nur als Falke gesehene Kalifornier Reagan, in dessen zweiter Amtszeit die Idee der Friedenssicherung eine neue Wertigkeit erlangte:“ Die Wertigkeit des als Falke gesehenen Kaliforniers. Nun ja, es ist halt ein hartes Geschäft, Ronald Reagan als Friedensengel zu verkaufen.

Na, Hauptsache, daß die beiden sich mögen – „volkstümlicher ausgedrückt: es miteinander können.“ Hoffentlich wird daraus nicht noch ein Schwulenlokal unter amerikanisch-sowjetischer Leitung. „Den Verhandlungspartner hereinzulegen, wird künftig nicht mehr so leicht sein.“ Towarisch, ich hab’s gesehen, Sie haben da noch eine klitzekleine Karte im Ärmel. ‚Tschuldigung.

Dem Umstand, daß auch Einzelhändler hin und wieder nach Tatsachen und Zahlen fragen, hat Franz Oexle selbstverständlich Rechnung getragen: „Das Resultat … besteht aus wesentlich mehr als Null.“ Sozusagen Null hoch zwei, wie? Das kann ja ein schönes Weihnachtsgeschäft werden.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Da ihm gedämmert haben mag, daß er „Absicht“ und „Impulse“ nicht mal einem Ladenschwengel als „greifbare Ergebnisse“ andrehen kann, hängt der Franz zum Schluß noch mal den Staatsmann raus: „Der Berg des gegenseitigen Mißtrauens … läßt sich nicht mit einem Federstrich aus der Welt schaffen.“ Und mit solche Mitteln schon gar nicht. Der Berg und der Federstrich. Da lacht mein  Gänsekiel.

Und überhaupt: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich’s Wetter oder bleibt, wie’s ist. Die „Supermächte haben einen Gesprächsfaden geknüpft“, die Parzen weben ihr Garn, und uns „bleibt der tückische Knäuel erhalten.“ Franz Oexle windet sich aus der Strickwolle, läßt sie „ohne schweren Schaden für die eigene Sache fallen“ und fährt heim, dorthin wo der Rhein „den großen See hinter sich läßt“. Endlich mal drei Wochen nur noch Weihnachtsplätzchen lutschen.

Sunny                                                                                                                                        Dezember 1985