1984 wartet schon (22)

aus: Nebelhorn Nr. 44, Januar 1985, von Jochen Kelter

Zwischen 15 und 20 Pfennige dürfte eine Druckzeile im „Südkurier“ ihrem Verfasser eintragen, wenn dieser nicht bestallter Redakteur, sondern freier Mitarbeiter ist. Da muß sich auch Thilo Koch, abgehalfteter TV-Star, Altmeister der journalistischen Imitation und seit Jahr und Tag Gastkommentator im „Südkurier“, ranhalten, will er sich die Butter aufs Brot verdienen.

Trotzdem: Das Geschäft scheint zu florieren. Und weil er seine Sternguckereien gleich auch dem Oberammergauer Anzeiger und der Friesischen Inselzeitung verhökert, blickt Thilo Koch optimistisch in die Zukunft. „Auch 1985 ist kein Weltuntergang“ betitelt er seinen Neujahrskommentar am 30. Dezember auf Seite drei. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

„Die Schreckensvisionen des englischen Autors haben sich auch „1984“ nicht verwirklicht, in Ansätzen werden sie schon seit Jahrzehnten vom Sowietsystem praktiziert.“ Solange die Rundfunkrente reicht, um sich in  deutscher Eiche einzurichten, und die Zeitungshonorare langen, um genügend Spätburgunder zu bunkern, kann’s einem schließlich egal sein, ob die Wirklich keit dabei ist, der Utopie die Hacken zu zeigen.

„Thema Nummer eins, der Weltfriede. Er wird halten…“ Der Kaffeesatz läßt grüßen. Oder: der Glaube aller Verrückten, daß die anderen normal sind. „Regionale Kriege dagegen sind möglich, zum Teil gehen sie einfach weiter…“ Ganz einfach. Einfach weiter geht auch das: „Die Entwicklungsländer schleppen ihre Probleme ins neue Jahr und leben weiterhin am Abgrund von Hunger und Verelendung.“ Ihr Problem. Thilo Koch dagegen steigt in den Keller, schleppt eine Flasche zum Schreibpult und läßt sich beim Stichwort Wirtschaft zu der trockenen Bemerkung inspirieren: „Das Wirtschaftswachstum wird nicht ausreichen, die Arbeitslosigkeit zu vermindern.“ Wie gut da doch, daß man rechtzeitig den krisensicheren Beruf des Schwadroneurs ergriffen hat.

Eine Kostprobe zum Thema Weltpolitik gefällig? „Südafrika…, die Gegensätze im Innern verschärfen sich, aber das Land am Kap bleibt stabil.“ Stabile Rassendiskriminierung, stabile Massenverhaftungen, stabiles Gewehrfeuer auf schwarze Jugendliche, stabile Folterungen, stabile Verhältnisse eben. Hin und wieder mal ’n Überfall: „Südafrika macht Fortschritte in den Beziehungen zu seinen Nachbarn.“

Thema Innenpolitik: „Die Regierung Kohl-Genscher bleibt… Es bleibt auch Strauß in Bayern. Ferner bleiben die Grünen… Schließlich bleibt auch die SPD… Es bleibt sogar die FDP…“ Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich’s Wetter, oder es bleibt wie es ist. Thilo Kochs „Fazit: Die Welt bleibt auch 1985 ein Jammertal, aber sie geht auch 1985 nicht unter.“ Das nämlich steht erst für 1986 in den Karten.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Chefredakteur Franz Oexle befindet in seiner Sylvesterbetrachtung: „Die Deutschen haben das Jahr Orwells – dessen symbolhafte Datierung ja auf einem Zufall beruht – bestanden.“ Alles Zufall, Kinder. Und Helmut Kohl erbittet in seiner Neujahrspredigt „Gottes Segen für unser deutsches Vaterland“. Den werden wir, deutsches Vaterland einmal abgezogen, in Anbetracht unserer Kohls und Kochs gut gebrauchen können.

Sunny                                                                                                                                              Januar 1985