Barzel und das Semikolon (21)
aus: Nebelhorn Nr. 21, Dezember 1984, von Jochen Kelter
„Südkurier“-Chefredakteur Franz Oexle singt im Männerchor. Im einstimmigen. Er hat den Part eines Refrain-Wiederholers übernommen. Aber so richtig sitzt die Rolle noch nicht. Schauen wir uns seinen Text an. Der steht am 26. Oktober auf der Titelseite und geht so:
„Seit Tagen macht das Wort von der Staatskrise die Runde. Es ist unangemessen; denn eine solche liegt nicht vor.“ Ei, ei, sollte unserem staatstragenden Leitartikler etwa Zweifel in die Feder geflossen sein? Daß er Behauptung und Begründung durch ein schamhaftes Semikolon voneinander fernhält? Einen Strichpunkt, der eben kein Komma ist? Und dann tief Luft holt und den Knüppel des Begründungssatzes auf uns niedersausen läßt? Weh dem, der’s nicht glaubt: „…denn eine solche liegt nicht vor.“ Geschrieben von jemandem mit gutem Gewissen hätte der Satz vermutlich gelautet: Das Wort der Staatskrise ist falsch, es gibt keine. Alles Psüchologie, Franz.
Irgendwie scheint sich da bis zum Bodensee Nervosität verbreitet zu haben. Ist ja auch kein Wunder. „Seit Tagen macht das Wort von der Stattskrise die Runde.“ Seit Tagen! Zehn Jahre nach Ende des größten aller Raubkriege haben sie uns eine neue Armee beschert, in den sechziger Jahren die halbe „Spiegel“-Redaktion eingelocht (nur, weil keine Staatskrise vorlag), dann (aus dem nämlichen Grund) die Staatsnotstandsgesetze verabschiedet, den Grenzschutz zur Bundespolizei hochgerüstet, zehntausende Polizisten krisenlos auf die Suche nach Atomwaffen- und Kernkraftgegnern durchs Land geschickt. Aber „seit Tagen“ ist von „Staatskrise“ null zu sehen.
Ab wann, Herrschaften, darf mit Eurem Segen von „Staatskrise“ gesprochen werden? Wenn uns Eure Atomboben um die Ohren fliegen? Aber dann werden’s die Russen und nicht Herr Flick gewesen sein, wie?
Der Staat, das sind wir, die „Südkurier“-Leser. Solange wir sechzig Millionen Idioten Steuern zahlen und nur ein paar hundert schmieren und geschmiert werden, um keine zu berappen, kann ja wohl im Ernst keine Rede davon sein, daß wir in der Krise stecken, nicht? Oder vielleicht doch? Zum Prügel auch noch die Schläge, heißt das im Jiddischen sinngemäß.
Zum Tritt in den Hintern auch noch den Zeigefinger. Den nämlich hat Franz Oexle schon parat: „Rainer Barzel mußte erfahren, daß Macht nichts Vergnügliches ist, sondern viel eher mit Verzicht und Tragik verbunden bleibt.“ Eher? Oder „viel eher“? Oder vielleicht doch „viel eher“ mit jeder Menge Sekt und Weibern?
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Das stammt weder aus dem „Südkurier“, noch von den Klassikern, sondern von Heinrich Heine. „Deutschland, ein Wintermärchen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Da schicken sie dann, wenn sie mal wieder ordentlich gezecht haben, die Salbaderer vom Schlage Oexles los, um uns Wasser zu predigen. Der hat über den mit 1,6 Millionen bescherten Barzel Sätze drauf wie diesen: „Des Leer-Ausgehens erwies sich er sich kundig.“ Dieser südbadische Ionesco, dieser Bodensee-Beckett. Rainer Barzel hätte sich fragen sollen: „Kann es eine Rückkehr an die Schalthebel geben, wenn jetzt Gaben auf den Tisch flattern, die nicht uneigennützig ausgeschüttet werden?“ Da krieg‘ ich das uneigennützige Schalthebelflattern. Solche Sätze schreiben Leut‘, die lieber in die Operette als in ein Stück des ‚Absurden Theates‘ gehn.
Über die Grünen, jene, „die erst neu hinzugekommen sind und deren kraftspendende Versorgung, die sich ja nicht immer in Millionen-Schecks niederschlägt, noch der Durchleuchtung bedarf.“ Haltet den Dieb! Müsli aus der Sowjetunion, was?
Na, dann zum Schluß lieber doch noch ein Verslein von Heinrich Heine:
Ein neues Lied, ein besseres Lied
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten!
In diesem Sinne: Prost Christkind! Dezember 1984