Der gewendete Alltag (5)

aus: Nebelhorn Nr. 25, Mai 1983, von Jochen Kelter

Franz Oexle ist den Monat März fleißig gewesen, galt es doch, den ungepflügten Acker publizistisch zu düngen. Vor der Wahl und nach der Wahl hat er mächtig seinen Bleistift angehaucht und feste in die Tasten gegriffen. Und seine Anstrengungen sind ihm gelohnt worden: Die Saat ist aufgegangen, der Messias aus Ludwigshafen am Rhein wird vier Jahre Zeit haben, Wald und Flur zu wenden, daß das Unterste zuoberst kommt, wo’s nicht schon oben ist.


Da wollte Franz Oexle denn nicht müßig stehn und meldete sich, kaum hatten die Bonner Wendeparteien ihr Regierungsprogramm eingefahren, am 24. März erneut auf der Titelseite des südlichsten Regierungsblatts zu Wort. Ganz behutsam, mit unterkühlter Feder, in Sütterlinschrift sozusagen, im Stil des großen Wendekrauts, bei dem er „ja auch Schlichtheit der Begriffswahl“ erkannt zu haben glaubt. „Aber da ist eben auch Verzicht auf täuschende Wortfassaden, auf Schau und Blendwerk.“ Na, na, Franz, ich glaub als fast, Ihr beide blufft. So könnt Ihr uns nicht täuschen, geh. Ich setz‘ ganz fest auf Ludwigshafener1 Barock und Konstanzer Blendwerk, das ist ja schließlich seit vielen hundert Jahren nicht umsonst die erste Industrie am Ort.

Sonst ist denn auch aus diesem Artikel vom 24. März nicht weiter viel zu vermelden. Ihr vielen tausend lieben Leut‘, die Ihr nie die Leitartikel lest, diesmal habt Ihr nichts verpaßt. Keine Sturmböenromantik, keine Freizeitseglermetaphorik, rein gar nichts. Franz Oexle hat sich fest an der Kandarre. Es muß ihm geradezu christliche Unlust bereitet haben. Ein paar „Mühlen und Instanzen“, „die in einem langwierigen Prozeß unaufhaltsam verrotteten Staatsfinanzen“: Geradezu lächerlich für einen Könner von Oexles Gnaden, diese substantivischen Miniballungen, diese von einer kleinen Adverbiale gekrönten adjektivischen Unachtsamkeiten. Zum Schluß prophezeit der Meister, daß der „Bevölkerung das Wort Verzicht zum Buchstabieren vorgelegt“ werde. Na ja, gut, Franz, Du bist für die Zwergschule. Aber das macht diesen Kohl nun auch nicht mehr fett.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.

Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …

Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.

1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.

Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Doch ich hab’s ja gewußt, daß so einer nicht über Nacht das Barock verlernt haben kann. Am 29. März ist Birne Kanzler geworden, und am 30. kommentiert Franz Oexle schon wieder vollmundig und in alter Frische: „Die Wende2 mündet in den Alltag ein.“ Ein Hoch auf alle Zielgeraden zwischen Wollmatingen und Bad Godesberg! Ihr werdet uns den Kittel schon wenden und die Hosensäcke zunähen, gell?

Während die Nation sich auf die Osterfeiertage vorbereitet (seht Ihr sie wuseln, die Nation, wie sie Ostereier ins Gestrüpp lädt), packen auch die führenden Politiker jetzt ihre Koffer“ (es wär‘ zu schön, um wahr zu sein). Nicht so der Franz. Der hält die Stellung, der hält den führenden Politikern publizistisch den Rücken frei beim Ostereiersuchen. Unverholender Triumph zittert – zu Kosten letzter Logik zwar, aber das ist ja wohl nach der Wende keine Schande mehr – durch seine Feder, wenn er einen Satz wie diesen schreibt: „Seit dem 6. März schon war der großgewachsene Pfälzer alles andere als ein Kanzler auf Abruf, wie ihn seine Gegner nach dem 1. Oktober zu bezeichnen pflegten.“ Schon seit dem März bin ich nicht mehr, was ich im Oktober nie und nimmer war. Kränkelnde Gedankenblässe, du fichst mich forthin nicht mehr an! Und: „Jetzt kann ihm selbst der argumentationsbeflissenste Widersacher die Legitimität nicht mehr absprechen.“ Wir haben schon verstanden, Franz: Argumente sind in Zukunft scheißegal.

Immer wieder trägt sein barockes Temperament ihn hoch hinaus: „Angesichts einer so satten Mehrheit müßten schon wilde politische Stürme aufkommen, um das neue Regierungsschiff gegen die Klippen zu werfen.“ Und so was lebt am Bodensee! Ich sag’s ja: Freizeitsegler.

Ein Wermutstropfen fällt natürlich, wie könnt‘ es anders sein, doch in den Freudenbecher. Doch „Rainer Barzel, der neue und überzeugend gewählte Bundestagspräsident, pflegte den Stil der Versöhnlichkeit und Toleranz, womit er gerade jenen ein Beispiel gab, die von ihren Überzeugungen her dem Fanatismus zuneigen“ – macht Euch die Bedeutung dieses Satzes klar, Ihr grünen Toleranzler! – „aber auch Parlament und Straße nur mit Anstrengug zu unterscheiden wissen.“ Herr Präsident, so schallt es durch das Hohe Haus, wo bitte ist in diesem Zug die Autobahnraststätte?

Im April ist es um Franz Oexle dann stiller geworden. Kein einziges Mal hat er bis heute mehr zur Feder gegriffen. Wahr ist immerhin, es sind seither wenig schöne oder schicksalsträchtige Dinge passiert, und schiere Betriebsunfälle wie die gestoppte Volkszählung sind Franzens Sache nicht. So etwas versteh‘ wer will, in diesem Fall ein jüngerer vielleicht, Oexles Vize Appenzeller3. Den hatten die Südkurierler wohl in unguter Vorahnung schon vorher mal was zum Thema sagen lassen. So war es dann nur folgerichtig, daß der Kommentar am 14. April aus seiner Feder kam, während der Franz beim Angeln war. Und wie er ausgeholt hat: eine „Ohrfeige für die Politiker“ hat er das Urteil des Verfassungsgerichts genannt und seine Formulierung „nicht übertrieben“ gefunden. Soll einer sagen, der „Südkurier“ hätte nicht das Ohr am Volk. Und dieses Engagement, dieser Drive, herzerfrischend! Aber hast Du’s nicht auch ’ne Nummer kleiner, lieber Gerd? Die haben denen in Bonn doch bloß gesagt: Jungs, an Eure eigenen Vorschriften und den ganzen Krempel müßt Ihr Euch wohl schon mal halten. Kein Grund doch, auf Tätlichkeiten zwischen den Herren zu schließen. Wo kämen wir hin, nicht? Wenn die nicht mehr zwischen Gerichtssaal und Straße unterscheiden könnten. Na, jedenfalls, wenn das nicht der Gipfel der Pressevielfalt ist, wenn sie schon in ein und derselben Zeitung durchschlägt.

Und von Franz Oexle würd‘ ich dann nächstens gerne was über den Aufschwung lesen. Da ist er Spezialist! Ich bin schon gespannt.

Sunny                                                                                                                                                            Mai 1983

 

Anmerkungen:

1 Ludwigshafen ist der Geburtsort von Helmut Kohl

2 Mit Wende, später auch „geistig-moralische Wende“ (Kohl), war damals natürlich nicht die deutsch-deutsche Wende nach dem Mauerfall 1989 gemeint, sondern der Wechsel von der sozialliberalen zur CDU/CSU-FDP-Koalition.

3 Gerd Appenzeller war von 1988 bis 1994 Chefredakteur des Südkuriers, danach ging er in die Chefredaktion des Berliner Tagesspiegels.