Deutschland erwache! (19)

aus: Nebelhorn Nr. 41, Oktober 1984, von Jochen Kelter

Um Deutschland ist es schlimm bestellt. Und immer, wenn es um Deutschland schlimm bestellt ist, also fast immer, finden sich Männer, die Deutschland vor dem Bösen bewahren wollen. Und da solche Männer in Deutschland nachwachsen wie die Pilze im Regen, wird Deutschland dauernd wachgerüttelt. Ganze Männerchöre sind damit beschäftigt, die wahren Schuldigen und die Drahtzieher auszurufen. Und da entschlüpft so einem welschen Teufel das böse Wort vom ‚Pangermanismus‘. Da sieht man’s. Deutschland ist umzingelt.

Die Bösen, das sind die Honeckers, Tschernenkos, Gromykos, Andreottis1. Franz Oexle macht sie am 5. September des Jahres ’84 alle im „Südkurier“ ausfindig. Auch „die in Bonn tätigen Funktionäre des kommunistisch regierten deutschen Staates“. Man stelle sich das bitte vor, mitten in Bonn. Und wir in unserer grenzenlosen Naivität hatten gedacht, das seien bloß die Angehörigen der Ständigen Vertretung der DDR. Na, in Konstanz wäre das jedenfalls denkbar. Gut, daß es den „Südkurier“ gibt.

Die Bösen, das sind auch – wir hatten’s schon fast vergessen – „die SPD-Politiker Brandt, Vogel und Ehmke“. Die „übernehmen ohne Umschweife die aus Ost-Berlin überspielte Version, am ganzen Malheur … sei der böse Alfred Dregger2 schuld.“ Der doch nicht! Der hatte einem Staatsgast der Bundesrepublik Deutschland doch blos gesagt, er könne seinetwegen auch bleiben wo der Pfeffer wächst.

Die SPD aber – das haben wir in den vergangenen fünfzehn Jahren einfach übersehen, wir Polittölpel – ist doch nichts anderes als die Westausgabe der SED. Und die wiederum ist die Westausgabe … Erraten! Alle Wege führen nach Moskau. Dort hat „das übergeordnete Politbüro“ „seinen Sitz“. Kürzlich war in einer Anzeige der Modebranche von den ‚Goldenen fünfziger Jahren‘ die Rede. Scheint was dran zu sein.

Zwischenzeitlich aber war bei uns schon einmal die Unter-Abteilung des Moskauer Politbüros am Ruder und versuchte zu vertuschen, daß alles Böse dieser Welt im Kreml ausgekocht wird, „die blutige Niederwerfung des ungarischen Volksaufstandes 1956, die Zertrampelung des Prager Frühlings 1968“, der „Überfall auf Afghanistan“. Und nun die Niederwerfung des Honecker-Besuchs.

„Ausgerechnet der treueste Vasall … auf Annäherungskurs Richtung Bundesrepublik … Da hört für Stalins Nachfahren der Spaß auf.“ Haben sich vorher halb tot über uns gelacht hinter ihren Kreml-Mauern, die Enkel Stalins. „Das hat nun mit Alfred Dregger (wessen Nachfahre bitte, wessen Nachfahre?) wirklich nichts zu tun“. Ganz wirklich.

Wo Chefredakteur Franz Oexle die Verschwörung von Gromyko bis Brandt aufdeckt, da bleibt es Inlandsredakteur (!) Robert Rapp am 22. September überlassen, dem falschen Italiener Andreotti auf die Schliche zu kommen. Und natürlich ergeben sich schnell Zusammenhänge. Nicht nur war, was er gesagt hat, „höchst merkwürdig“, er hat es auch „vor einer kommunistischen Zuhörerschaft“ ausgesprochen. Aha! Man sieht: Wir sind umzingelt. Von Kommunisten und pseudochristlichen Südländern.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

„Vom Außenminister eines verbündeten Staates sollte man erwarten dürfen, daß er die Zusammenhänge erkennt …“ Wohl den folgenden Zusammenhang: Was der christliche Konrad Adenauer zur Grundlage seiner Poliktik gemacht hat, die deutsche Teilung, darf der christliche Guilio Andreotti nicht aussprechen, weil’s der Helmut Kohl nicht kapiert.

Die deutsche Frage ist offen, die polnische bis nach Danzig, Südtirol ist österreichisch und Österreich eh‘ deutsch. Aber mit ‚Pangermanismus‘ hat das alles überhaupt nichts zu tun.

Sunny                                                                                                                                                Oktober 1984

 

Anmerkungen:

1 Erich Honecker (1912 – 1994) war von 1971 bis 1989 Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (DDR); Konstantin Ustinowitsch Tschernenko (1911 – 1985) war 1984/85 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion; Andrei Gromyko (1909 – 1989) war von 1975 bis 1985 Außenminister der UdSSR; Gulio Andreotti (1919 – 2013) war in Italien alles: sieben Mal Ministerpräsident, unzählige Mal Minister in insgesamt 33 Regierungen, Senator auf Lebenszeit und Mafia-Freund.

2 Alfred Dregger saß von 1972 bis 1998 für die CDU im Bundestag und war von 1967 bis 1982 Landesvorsitzender der CDU Hessen; als Spitzenkandidat gelang es dem rechten Dregger nie, die damals noch linke hessische SPD zu besiegen.