Die Angst des Lesers beim Aufschlagen der Zeitung (14)
aus: Nebelhorn Nr. 35, März 1984, von Jochen Kelter
Alle Jahre wieder: Fastnachtszeit, Narrenzeit. Nichts geht mehr. Die Welt läuft einem auseinander. Mann kann sich nur dreinfügen. Das mag sich auch Chefredakteur Franz Oexle gedacht haben, als er am 2. Februar auf der Titelseite des „Südkurier“ seufzte: „So einfach ist das also“. Die Affäre Kießling, in der sich Chefartikler Oexle bis ganz zuletzt bedeckt gehalten hatte, ist es, die ihm diesen Stoßseufzer über die Lippen treibt. Föhnsturm und Wintergewitter: Franz Oexle packt’s nach gutem alten Brauch in Wetterworte. Mit dem Wetter hat er’s als echter Sohn des launischen Sees schon immer gehabt. Er sieht das „Wetterleuchten“ „an der innenpolitischen Front“ und den Kanzler „in Schlechtwetterzonen geraten“. Dabei schießt er auch schon mal übers Ziel. „So einfach“ war das doch gar nicht. Im Gegenteil: Da hat sich Helmut Kohl doch geradezu abgemüht, das schwierigste Kunststück überhaupt fertigzukriegen. Einen General, der als schwules Sicherheitsrisiko gefeuert worden ist, wieder in Amt und Würden einzusetzen, obwohl kein Mensch weiß, ob er denn nun oder doch kein Sicherheitsrisiko ist. Und den Herrn Minister, der den Herrn General rausgeworfen hat, auch gleich im Amt zu belassen. Wenn das nicht die Meisterprüfung für das Handwerk des Regierungschefs ist, Franz, weiß ich’s nicht. Das sind doch richtige Kavaliersmanieren, meinst Du nicht?
Dann stirbt einem in diese närrische Zeit auch noch der Kremlchef Juri Andropow rein. Da sieht man’s mal wieder, auf die Russen ist absolut kein Verlaß. Kulturbanausen, sag ich. Aber der Gerd Appenzeller kriegt’s in den Griff. Am 11. Februar fragt er seine Leser: „War der Mann, der am Donnerstagnachmittag 69jährig starb, nur ein Zwischenspiel …?“ Der Mensch als Spiel. Homo ludens. Welche geist-seelischen Weiten erschließt einem eine solche Frage, die in unsere Jahreszeit, das Ende des Winters, an dem wir in närrischer Verkleidung bis auf den Grund unseres Ichs zu schauen gewohnt sind, hineinpaßt wie die berühmte Faust auf das nicht minder berühmte Auge. – Damit sind die Grundlagen gelegt für den Chef vom Dienst. Dieter Seewald, der am 18. Februar unter der psychoanalytischtheologischphilosophischen Überschrift „Die Angst zu leben“ alle letzten Dinge überhaupt anrührt. „Man mag es Neurose nennen“. Ja. Ja. „Doch eben hier gilt es nachzuhaken“. Sicher. Sicher. „Sind sie denn so unabänderlich, jene Gegebenheiten unseres gegenwärtigen Daseins?“ Doch. Doch. „Wird Politik denn tatsächlich nur ‚von denen da oben‘ gemacht…?“ Klar. Klaro. „Doch die Entwicklung der Bundesrepublik endet nicht mit dem 20. Jahrhundert. Wir durchleben nur eine Episode im Ablauf der Weltgeschichte.“ Wer weiß das schon, nicht? „(Die Politik) kann einfach nicht mehr an der Tatsache vorbei, daß sich Millionen in Ost und West sorgen um die Zukunft.“ Und um den deutschen Satzbau? Der darf ruhig zum Teufel gehen ob so geballten ontologischen Schwachsinns, ja?
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
„Untergangsstimmung und ein Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens…“ Allerdings. Zunehmend. Besonders kurz nach dem Aufschlagen der Zeitung. Mein Rat: über die närrischen Tage weniger „Südkurier“ lesen. Die scheinen sich für die Dauer der Fastnachtszeit als Philosophenschule verkleidet zu haben. Steht zu hoffen, daß sie nach dem Aschermittwoch dann wider ohne Kaffeesatz beim Verfassen der Leitartikel auskommen. Aber ach, Hoffnung! Laß fahren, Mensch, laß sie fahren. Hienieden kannst Du nichts halten, nicht einmal die.
Ich steig derweil seinsbeschwert in mein Narrenhäs, behänge mich mit nagenden Selbstzweifeln, laufe mit bohrenden Fragen durch die Gassen, kehre in Gedanken das Unterste nach oben und wieder retour und laß‘ beim zweiten Viertele alles sausen.
Sunny März 1984