Die Kunst der Leiners
Nun ist es soweit: Die neue seemoz-Rubrik “Was bleibt” ist hiermit eröffnet. Ab sofort drucken wir Texte nach, die zum Teil schon vor rund 30 Jahren im Konstanzer Stadtmagazin “Nebelhorn” zu lesen waren, aber an Bedeutung nichts verloren haben. Wir starten mit der zweiteiligen Chronik der Konstanzer Familie Leiner, die über Jahrhunderte hinweg die Geschichte der Stadt geprägt hat. Hier Teil eins des Essays, verfasst von Jochen Kelter und erstmals erschienen im “Nebelhorn” Nr. 14, 1982.
Die Begebenheit trug sich in einer süddeutschen Kleinstadt, etwa achtzig Kilometer von Konstanz entfernt, zu. Ich saß im Büro des Verlegers in dieser preußisch-katholischen Enklave hinter den sieben Bergen, um über ein Buchprojekt zu verhandeln. Das Telefon läutete, der Verleger nahm ab und befand sich gleich mitten in einem Gespräch über Termine, Ausstattung, Kosten und Zuschüsse, das in einem verschlüsselten Deutsch geführt wurde, dessen man sich bedient, wenn Ohren mithören, denen man Klartext vorenthalten möchte, und das beide Partner wiederaufnahmen wie einen vor kurzem unterbrochenen Dialog.“Selbstverständlich nehmen wir dann für den Fortdruck einen anderen Einband und das Vorwort heraus. Die Kosten wie besprochen, jawohl. Natürlich bekommen die Mitglieder die Jahresgabe zum gewohnten Termin. Jawohl, Herr Leiner.“ Dann wurde das Thema gewechselt. „Ein Buch über Konstanz in meinem Verlag? Ja, wir erwägen das.“ Der Verleger nahm für einen Moment den Hörer vom Ohr, legte kurz die Hand auf die Muschel, bedeutete mir etwas mit den Augen und begab sich erneut zu seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Jetzt folgten ein paar Brocken aus meiner Biographie aufs Geratewohl. „Ja, in der Schweiz, jawohl, ist der Herausgeber. Auf Wiederhören, Herr Leiner.“ Das ebenso unverhoffte wie dezidierte Verlangen nach Auskunft hatte die Witterung möglicher Gefahren bei meinem Gegenüber endgültig geschärft. Und im folgenden fielen Bemerkungen wie: „Und Sie werden doch nicht, … bitte auf keinen Fall!“ deutlich häufiger.
Der zufällige, gleichwohl bezeichnende Vorfall weckte endgültig mein Interesse für eine Familie, deren derzeitiges Oberhaupt, sozusagen augenblicklicher (und letzter) Dynast der Mann am Telefon war, Dr. Ulrich Leiner, Apotheker und Stadtrat in Konstanz. Gehört hatte ich bis dato dies und das, Geschichten, Anekdoten und auch Klatsch; was man eben zu hören bekommt, wenn man lange genug in einer Stadt mittlerer Größe lebt. ‚Kulturpapst’ nennen ihn die einen, ‚Leichengräber der Konstanzer Kunstszene’ die anderen. Manche vermuteten in ihm den eigentlichen Chef des städtischen Kulturamts, andere verstiegen sich, in ihm – zumindest für gewisse Zeitabschnitte – den heimlichen Oberbürgermeister zu vermuten. Von seiner adeligen Schwester war die Rede, der Museumsleiterin, deren Mann angeblich noch niemand zu Gesicht bekommen hat. Geschwätz. Wieder andere sprachen ihm jeden Kunstverstand glattweg ab. Ein befreundeter Künstler erzählte mir, Leiner wolle die für die städtische Wessenberggalerie in Aussicht genommene Ausstellung mit der Begründung absetzen, er sei nicht sicher, ob der Künstler überhaupt genug zusammenbrächte, um die Räume zu füllen. Was – nach meiner Kenntnis – nun in der Tat nicht an Ignoranz grenzt, sondern den Begriff inhaltlich füllt.
Wie auch immer: nach über zehn Jahren, die ich in und mit der Stadt zu tun habe, war auch ich in die Peripherie einer Familie geraten, an der in Konstanz wohl kaum einer so leicht vorbeikommt – und dies immerhin seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren. Wenn ich mein nun einsetzendes Interesse, meine Neugier, eine mit einmal zielgerichtete Sammlerleidenschaft reflektiere, weiß ich, daß ich an meinem Verhältnis zu dieser zufällig Heimat gewordenen Stadt schreibe, deren Geographie sich noch immer nicht völlig über andere, in tiefere Schichten der Orientierung eingesunkene Geographien gelegt hat. Daß ich versuche, mir eine Geschichte zu erschreiben, die gerade in ihrem unmittelbar vergangenen Abschnitt, den wir eigentlich noch fühlen, von dem wir zehren können müßten, hinter den großen Orientierungslinien hoffnungslos blind geblieben ist. Die Generation vor uns hat nichts Besseres gewußt, als die Nabelschnur der Vergangenheit da, wo sie noch Lebensgeschichte ist, zu kappen. Trotz mancher theoretischer Kenntnis sind wir ziemlich geschichtslos geblieben.
In der Leinerschen Familie war und ist dies mit Sicherheit anders. Erst eine Weile nach dem erwähnten Telefongespräch wurde mir klar, in welchem Bewußtsein Ulrich Leiner bei einer ihm verpflichteten Person Auskünfte über einen Fremden einholt, der sich offenbar um Angelegenheiten kümmert, die die seinen kaum sein können. Mit der Selbstverständlichkeit nämlich, die dem Besitz entspringt. Als Leiner besitzt man Heimat wie andere Leute ein Auto oder ein Häuschen besitzen: als höchstes Gut und eine Selbstverständlichkeit gleichermaßen. Und genau wie dieser kann jener Besitz vererbt werden. Vererbter Besitz aber steigert das Gefühl der Selbstverständlichkeit: was man immer schon besessen hat, besitzt man um so sicherer. In der Familie Leiner wird Heimat als Lebensaufgabe und Besitz von Generation zu Generation weitergereicht wie ein Familienunternehmen. Ein Stafettenlauf, in den sich, wie es scheint, die Läufer mit immer neuer Inbrunst und Konzentration versenken. Schon am Grab des Großherzoglich Badischen Hofrats Ludwig Leiner hatte der altkatholische Stadtpfarrer Schirmer im Jahre 1901 verkündet: „Unser verklärter Freund stand im Dienst idealer Mächte. Was er in diesem Dienst für Stadt und Staat, für Heimat und Vaterland gethan – es liegt offen vor unseren Augen, und noch der Enkel Mund wird es laut verkünden.“
Wo, wenn auch mit der melodramatischen Stimme eines ins Korsett geschnürten Bürgertums, der Enkel Mund und offene Augen so unmißverständlich zum Zeugnis gerufen werden, da muß – und sei es nur für das geistige Auge – schon was zu sehen sein. Die verbalen Selbstversicherungsformeln einer die ganze Stadtgesellschaft für sich in Anspruch nehmenden bürgerlichen Öffentlichkeit am Grab eines ihrer Repräsentanten schmecken ein wenig nach blechernen Efeukränzen und in Stein gemeißelter Trauer. Die Taten des Verblichenen aber liegen im Dunstkreis der Provinz als Name und Stein gewordener Lebensweg wirklich allen offen vor den Augen. Der Weg der geforderten Abstraktion ist demnach kurz, das geistige Auge nur einen Moment gefordert. Hier haben die Leerformeln einer sich ständig am Portepee nehmenden und auf Schritt und Tritt überhöhenden Bürgergesellschaft handfesten Hintergrund: das von Ludwig Leiner geschaffene Rosgartenmuseum kann die Trauergemeinde ohne weiteres zu Fuß erreichen, und für die Kinder und Enkel ist mit der „Leinerstraße“ vorgesorgt.
Der Verdacht, daß sich die lokale Bürgergesellschaft hinüberrettet in Schall und Rauch, befällt einen erst, wenn man die Worte des geistlichen Herrn ein zweites und drittes mal liest. Durch die Zusammenspannung von Stadt und Staat, von Heimat und Vaterland wird nicht etwa der Staat vertrauter, das Vaterland heimatlicher. Ganz im Gegenteil. Der Staat zieht die Stadt, das Vaterland die Heimat zu sich herüber ins Reich des Abstrakten. Spricht der altkatholische Pfarrer im Namen einer imaginären Gesamtgesellschaft und unter den Augen staatlicher Autorität – immerhin wohnte dem Leichenbegängnis mit dem Gendarmeriemajor Schmitt ein besonderer Abgesandter des Großherzogs bei -, so kann sich Rechtsanwalt Beyerle in seinem schriftlichen Nachruf namens des „Vereins für die Geschichte des Bodensees“ auf kleinere Dimensionen beschränken und darauf verzichten, über die Hügelkette des anderen Seeufers hinauszublicken: „Hoch auf Jahren und doch zu frühe für die Seinen, für seine Heimat und für uns alle sank er zu Grabe, eine klaffende Lücke in der Reihe der Bestverdienten unseres Vereins zurücklassend.“ Heimat indessen wird dadurch kaum heimatlicher, und „an der mit Blumen gezierten Bahre“ gewinnt der „Unvergeßliche“ kaum menschliche Züge. Ein Tod wie ein Filmszenario. Noch gestorben wird im Korsett und im Angesicht einer sich in die dünne Luft verklärter Gefühle emporschraubenden Bürgergemeinde.
Nun kann ich Ulrich Leiner, Apotheker in Konstanz, Stadtrat für die „Freie Wähler Gemeinschaft“ und deren Fraktionsvorsitzender, Vorsitzender des Kunstvereins, Mitglied des Kreistags, Theaterbeirat, bereits sehr viel besser verstehen; zumal ich jetzt weiß, daß er die nämlichen Funktionen ausübt, die bereits sein Vater Bruno, sein Großvater Otto und der oben im Jahre 1901 verstorbene Hofrat Ludwig, sein Urgroßvater, versahen. Sie alle waren Apotheker, sie alle waren Stadträte des sich unter wechselnden Namen und rasch ändernden Konstellationen liberal verstehenden Bürgerblocks, sie alle waren an den Stellen von Kunst, Wissenschaft und Kultur tätig, die in einer Provinzstadt die entscheidenden sind: städtisches Museum, Kunstverein, Vortragsgesellschaft, Geschichtsverein, Bürgerverein. Ich verstehe, daß Ulrich Leiner, bei dessen Namen SPD-Stadträte (und nicht nur sie) aufstöhnen, glaubt, im Namen seiner Väter und also der Stadt zu handeln, und daran ist zweifellos etwas Wahres. Ich verstehe, daß er, sollte er aus der Apotheke „Zum Malhaus“ auf den Obermarkt schauen, das Gefühl haben muß, … in den Garten seiner Familie zu blicken.
Ich kann verstehen, daß eine Familiengeschichte, wie sie die Leiners besitzen, in der Großvaters Tagebuch die städtischen Akten sind, in der der nächste ganz selbstverständlich dort weitermacht, wo der letzte vom Tod unterbrochen wurde, ohne daß je Schwachsinn, Ausschweifung oder kränkelnde Gedankenblässe ein Glied aus der Kette gebrochen hätten, unanfechtbare Selbstsicherheit verleiht. Ich kann verstehen, daß eine so lange und ununterbrochene Ahnenkette zuletzt den Blick trüben muß.
Wo, wenn nicht in dieser windgeschützten Ecke zwischen See und Schweizer Ausland, in diesem Landstrich, die so mancher Chronist kurzerhand zum Paradies erklärt hat, in dem der Liebe Gott pfundweise Balsam austeile, wäre eine solche Ahnenkette wohl denkbar? Ich spreche nicht von einer durch Kanonen konservierten Familiengeschichte aufgemotzter Industriebarone, deren letzter Sproß seine Steuermillionen auf den Bahamas verjuckst. Ich spreche von einer Geschichte tätiger Bürger, denen der bloße Gedanke an jede Menge Sekt und Weiber noch im dreizehnten Glied einen Schauder über den Rücken jagt.
Ludwig Leiner, geboren im Jahr 1830 zu Konstanz, gestorben ebendort im Jahre 1901, führte die Apotheke „Zum Malhaus“, die sein Urenkel Ulrich in der sechsten Generation betreibt, selber bereits als dritter männlicher Erbe. Franz Xaver, der von 1733 bis 1802 lebte, hatte vom Leinwand- auf den Pharmakahandel umgesattelt. Zu jener Zeit aber befand sich die Familie bereits seit bald zweihundertfünfzig Jahren in den Mauern der Stadt, in die sie den Chronisten zufolge um 1520 gekommen war. Hans Leiner, der Stammvater der Sippe, ist in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als Bürger von St. Gallen verzeichnet und betreibt wie viele seiner Berufsgenossen im damaligen Oberschwaben neben dem Bauerngewerbe die Leinweberei als Nebenverdienst. Sein Nachfahr Ulrich, wohl angelockt vom Ruf der Großen Kompanie des Lütfried Muntprat und anderer Handelsunternehmen, verlegte seinen Wohnsitz aus dem Gaiserwald im St. Galler Oberland just zu der Zeit nach Konstanz, als die auf Leinwand begründete Wirtschaftsblüte der Stadt und ihr Fernhandel bereits auf der Fahrt in die Talsohle waren. Dennoch erscheint es weder müßig noch erfolglos gewesen zu sein. Denn 1538 stirbt er als einer der höchstbesteuerten Bürger von Konstanz.
Von dem bürgerlichen Weg hat die Familie offensichtlich auch nicht abbringen können, daß einer der ihren, Johann Georg, am 3. August 1600 von Kaiser Rudolf II. geadelt wird; ein zweites, leicht verändertes Wappen in dem von Otto Leiner selber angelegten Buch der Konstanzer Geschlechter ist einziger Nachhall dieses Vorgangs geblieben. Wo indessen Aufstieg zu städtischen Ämtern und Würden bürgerliche Prosperität anzeigt, da läßt sich schließen, daß die Geschäfte der Familie florierten. Hans Georg sitzt von 1604 bis 1626 als erstes Familienmitglied zunächst im Großen, anschließend im Kleinen Rat, und seither hat keine Generation der Leiners den Rat mehr bei seinen Geschäften allein gelassen. Mit Johann Jakob tritt 1714 zum ersten Mal ein Leiner als Bürgermeister und Stadtvogt an die Spitze des Gemeinwohls. Leiners sind Vögte und Oberpräfekten bischöflicher Besitzungen im heute schweizerischen Thurgau, sie sind Chorherren in der Bürgerkirche St. Stephan, Hausherren und Oberhausherren der städtischen Lagerhäuser. Die Frauen nehmen, dem Brauch der Zeit gemäß, den Schleier oder heiraten in die Patrizierfamilien der Thumb, Guldinast oder Labhart.
Über dem politischen und sozialen Aufstieg hat die Familie das Augenmaß fürs Wirtschaftliche nicht aus den Augen verloren. Und als Franz Xaver – Konstanz ist inzwischen vorderösterreichisch, die Leinerschen Vornamen klingen bisweilen bajuwarisch – die Branche wechselt, trägt er damit dem längst schon veränderten Welthandel Rechnung. Mit Gewebtem waren hier keine Geschäfte mehr zu machen. Daß sich die Familie in dieser vorindustriellen Epoche vom Handel einem krisenunabhängigeren und auch zukunftsträchtigen Bürgerberuf zuwendet, spricht für ihre Klarsicht und vernünftige Beurteilung der Möglichkeiten in einer Stadt, die Joseph II. anläßlich eines Besuches anno 1777 ein finsteres Pfaffennest genannt haben soll. Leiners findet man fortan als Apotheker, Ärzte und im Amt des Stadtphysikus. Als angesehene Bürger haben sie Anspruch auf ein Erdbegräbnis in St. Stephan, und im „Kurzgefaßten Todten-Register Zerschiedener in Löbl. Stifts- und Pfarrkirch zu St. Stephan und Nicolaus in Constantz begraben liegender geistl. und weltl. Personen beederlei Geschlechts“ von 1762 findet man alleine 23 Angehörige der Familie.
Ich verspüre wenig Neigung, mich der Meinung anzuschließen, mit Johann Jakob Leiner, dem ersten Bürgermeister, sei ein oder gar der Höhepunkt in der Geschichte der Familie erreicht. Ich setze vielmehr auf Ludwig, den 1901 verstorbenen Hofrat. Zu Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – Konstanz hatte so um die zehntausend Einwohner – begründete er lange, bevor vergleichbare Städte solche Aufgabe als die ihre begriffen, im Zunfthaus zum Rosgarten mit Unterstützung der Stadt, deren Rat er angehörte, eine Altertumssammlung. Das hört sich für unsere Ohren fast banal an, war in der Tat aber nichts weniger als eine Unternehmung von allererster politischer und kultureller Bedeutung. Leiner schuf dem lokalen Liberalismus mit seiner Choreographie von Konstanz just in dem Moment das historische und theoretische Fundament, dessen die als Erfüllung der Weltschöpfung agierende Bourgeoisie bedurfte, in dem die natürliche und historisch gewachsene Choreographie dem Fortschritt, den Segnungen des technisch industriellen Zeitalters weichen mußte, auf dessen Forcierung im Seekreis die Konstanzer Liberalen so sehr drängten. Bereits 1839 wird das Schottentor abgerissen, 1853 wird der Münsterturm in neugotischer Manier vollendet, 1857 das Emmishofer Tor abgebrochen, 1861 die erste Gasfabrik errichtet, 1862 das Kornhaus abgebrochen, 1864 die Kapuzinerkirche an der Marktstätte, 1866 das Kreuzlinger Tor, 1867 wird die Eisenbahnverbindung durch den Schwarzwald fertiggestellt, 1869 eine neue Uferpromenade, die Seestraße, vollendet, 1871 die Eisenbahnstrecke von Konstanz nach Romanshorn, 1875 die von Konstanz nach Winterthur eröffnet. Wenn Leiner von seinen Zeitgenossen und in den Nekrologen „das historische Gewissen von Konstanz“ genannt wird, dann trägt dies der Tatsache Rechnung, daß er der erste Konservator des städtischen Museums, gleichzeitig erster Denkmalpfleger und städtische Bauaufsicht in einem war.
In seinem Museum ist Leiner einer der führenden Theoretiker des radikalen Seekreis-Liberalismus, ein typischerweise sehr praktischer Theoretiker, der das historische Fundament für eine neue Ära liefert. Für die Bourgeoisie bekommt das Motto: „Machet Euch die Erde untertan!“ bekanntlich mit Rousseau einen neuen Klang. Das Bedürfnis des ein Jahrhundert lang nach der Macht greifenden Bourgeois ist es, die gesamte Gesellschaft, einschließlich seiner natürlichen Umgebung, mit seinen an Aufklärung, Leistung, profitabler Umkrempelung ausgerichteten Wertmaßstäben zu durchdringen. Dieser Anspruch des Bourgeois ist analog zu den ihm zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln zum ersten Mal in der Geschichte ein totaler. Geschichte und Natur sollen ihm zur Verfügung stehen, sollen von seinen Emotionen, seinem Erkenntnisinteresse gezeichnet sein. Natur wird mit einmal historisch gesehen. Denn in dem Moment, in dem der citoyen und bourgeois die Natur mit den Augen Rousseaus, Sternes oder Schummels betrachtet, hat sie ihre Funktion als Bezugsrahmen der Weltordnung bereits an die Geschichte abgetreten. Aus der spekulativen Philosophie wird die Geschichte der Philosophie. Aus der Natur die Geschichte der Natur. Die Geschichte der Natur zeigen, bedeutet auch, die Geschichte als Natur zu begreifen, die machbaren Wandlungen unterliegt. Im Museum zeigt der Bourgeois die Natur als Geschichte, die Geschichte als veränderbare Natur. In seinem Museum sitzt der Bourgeois wie die Spinne in ihrem Netz, im Museum soll die Geschichte an ihr dekretiertes Ende gelangen.
Leiner schafft mit seinem Museum den „wertvollste(n) Beitrag und Beleg zur Konstanzer Geschichte“, wie Stadtpfarrer Schirmer in seinem Nekrolog Stadtpfarrer schon leicht historisierender Ferne, wenn auch – indem er von „Beleg“ spricht – in deutlich positivistisch gesinnter Manier hervorhebt. „Die sprechenden Zeugen aus alter Zeit zu sammeln und sie chronologisch auszustellen … begann 1870 der Konstanzer Bürger Ludwig Leiner. Die Weiterführung der gestellten Aufgabe strebt an, eine selbstredende heimatliche Gegendbeschreibung, eine Chorographie von Konstanz zu erzielen.“ Das ist die positive Streckung, die Katalogisierung des Rousseauschen Ideals im Zeitalter der Industrie. Die Vergangenheit spricht selbst, setzt man sie nur fein säuberlich, chronologisch linear, nach Größe und Form der Funde ausgestellt, dazu in den Stand.
Nun . gilt es noch, jedermann derart zu bilden, daß er – zum bürgerlichen Stand aufgestiegen – die Sprache der historisierten Historie verstehen kann. Leiner sammelt unermüdlich, man sieht ihn durch die Straßen der Stadt mit einem neuen Fund zum Rosgarten eilen, er überwacht Ausgrabungen und Veränderungen des Stadtbilds auf der Jagd nach Belegen für eine vollständig geschichtlich werdende Welt. Wir errichten der Gesittung ein Gebäude, das alle Weltwunder übertrifft. Wir schließen die Geschichte, wir merzen die weißen Flecke, das Ungewisse merzen wir aus. „ In nie rastender Arbeit fand Leiner sein Glück.“ Er kommentiert seine Funde von eigener Hand „ in künstlerischer Schrift“ auf tausenden von Zetteln, Tafeln und Hinweisen, bald wissenschaftlich – „ Der Rosgarten in Konstanz, ein Umblick im Konstanzer Gebiete nebst Erläuterungen“, „Führer durch die choro-graphische Sammlung des Rosgartens in Konstanz“ – bald lyrisch: „ Konstanz, Konstanz über alles, klingt ein Wahlspruch durch mein Leben / Im Rosgarten drum auch galt es, voll dein Sein im Bild zu geben“. In seine chorologische Tätigkeit bezieht er neben Geschichte und Prähistorie auch die Naturwissenschaften ein. Schon bevor er sich mit der Geschichte zu beschäftigen beginnt, schreibt er Beiträge zur Döllschen „Flora Badens“ und hinterläßt bei seinem Tod ein mit eigenen Federzeichungen illustriertes zweitausendbändiges Werk „ Bild und System der Pharmazie“. Ein gemeinsames Ziel haben alle diese Anstrengungen: Raum und Zeit uneingeschränkt verfügbar zu machen. Der moderne Sammler ist auf lückenlose Vollständigkeit versessen, hinter der erdrückenden Fülle seines Werks verschwindet er selber wie Gott hinter seiner Schöpfung.
„Die sympathische Mannesgestalt des Konstanzer Patriziersprosses, den schwarzen, breitkrämpigen Hut auf dem edel geformten Kopfe mit auf den Nacken herabreichenden Haaren und Vollbart, die goldene Brille über den offenen und gerade blickenden Augen, bleibend in liebfreundlicher Erinnerung!“ Auf der Fotografie trägt er unter weichem Mantel den Gehrock des Bürgers, in den er napoleonisch die Hand gesteckt hat. Im Halsausschnitt des Rocks sitzen weicher Hemdkragen und Krawatte. Gesicht und Augen sind ausdruckslos gesammelt und dunkelt umwölkt. Über der feinen Brille des Gelehrten trägt er den breiten Schlapphut des Künstlers. Das halb verschattete Gesicht ist vom Gottvaterbart umrahmt.
Geboren am Obermarkt, der „Wiege des jetzigen deutschen Kaiserhauses“, besucht der “junge Patriciersohn“ bis 1844 das großherzogliche Lyceum, absolviert seine Lehrzeit bis 1848 in der väterlichen Apotheke, danach von 1850 bis 1851 in der Hofapotheke Sachs in Karlsruhe. Nach einem raschen Studium in München übernimmt er 1852 die väterliche Apotheke, heiratet, widmet sich der Botanik, besonders der Kryptogamie, wendet sich dann der Heimatgeschichte, zunächst vor allem der Prähistorie zu. Er schreibt Feuilletonartikel und wissenschaftliche Aufsätze, obwohl, wie die Chronisten zu berichten wissen, die umfassende wissenschaftliche Auswertung sein Geschäft nicht war. Dann kommen die Ehrungen: korrespondierendes Mitglied der Regensburger Botanischen Gesellschaft, Ehrenmitglied der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Ehrenmitglied der Anthropologischen Gesellschaft für Württemberg, Ritterkreuz vom Zähringer Löwen I. Klasse, Ehrenkonservator des Rosgartenmuseums, schließlich Großherzoglicher Hofrat.
Ludwig Leiner: ein Mann der Wissenschaft, ein Mann der Kunst. Sproß alter Bürgerfamilie, die zu Wohlstand, Ämtern und Ehren gelangt, sich im 19. und 20. Jahrhundert wissenschaftlichen und kulturellen Aufgaben zuwendet. Woher dieser Irrtum? Woher rührt es, daß alle Biographen und Chronisten nur diese halbe Wahrheit sagen?
Schon in Ludwig Leiners Lebenslauf sind die Jahre 1848/49 ausgespart. Was hat er getrieben zwischen der Lehrzeit daheim und dem Eintritt in die Sachs’sche Hofapotheke zu Karlsruhe? Pfarrer Schirmer verschweigt am Grab, daß Leiner zwar mit den Sakramenten der altkatholischen Kirche versehen aus dieser Welt gegangen ist, in ihr aber immerhin zweiundvierzig Jahre lang als Sohn der einen römischen Kirche gelebt hat; eine altkatholische Gemeinde existiert in Konstanz erst seit dem Jahr 1873. Geschichte als Natur. Wohlweislich auch schweigt er sich über Leiners Tätigkeit in der städtischen Schulbehörde, dem Ortsschulrat, aus, dessen Vorsitzender er seit 1864 war, jenem Jahr, aus dem auch seine Zugehörigkeit zum Stadtrat datiert. Über die Tätigkeit des Stadtrats findet sich in den Nachrufen, die gerade Ämter und Ehren ausführlich würdigen, kaum ein wägendes Wort, obwohl Leiner als Stadtrat mit so wichtigen „Recipiaten“ wie Kunst und Wissenschaft (einschließlich des Archivs), städtische Anlagen, Stadtbauplan, Gärtnerei und Straßenbenennung betraut war. Mit einem Wort: der Mann wird um seine politische Dimension gekappt, mag sein, mit seinem Einverständnis. Beim Studium der zeitgenössischen Publikationen drängt sich der Eindruck auf, hier werde mit aller Macht versucht, den Politiker durch den Konservator und Freund der Künste in den Schatten zu stellen.
Apropos Straßenbenennung. Über die scheinbar unverfänglichste der stadträtlichen Verantwortlichkeiten stolpert der Biograph des Bodenseegeschichtsvereins. Er lüftet einen Augenblick lang den Mantel der Versöhnlichkeiten, kratzt am Denkmal des kulturbeflissenen Patriarchen, und schon werden, sicher ganz gegen den Willen des wilhelminischen Advokaten, Risse sichtbar. Herr Beyerle wundert sich an einer Stelle seines Nekrologs, gerade als er die Schriften des Verblichenen, auch jenen für den Kur- und Verkehrsverein geschriebenen „Kleinen Führer durch Konstanz“ aufzählt, daß „der für Altehrwürdiges und Althergebrachtes sonst so begeisterte Mann im Jahre 1876 die Hand dazu bieten mochte, eine Reihe wurzelständiger und wohlklingender alter Straßenbenennungen in moderne umzuändern.“ Damals wurden etliche Straßen, die bis anhin geistliche Namen getragen hatten, säkularisiert. Da wurde aus der Augustiner- die Rosgartenstraße, aus der St.-Pauls- die Hussenstraße oder aus der Predigergasse die Inselgasse. Indem er „eine Erklärung dieses Mißgriffs giebt“, verrät der Chronist, daß die Vergangenheit keineswegs vergessen, nur verdrängt ist. Leiner hatte sich „in den politisch-religiösen Kämpfen der 1870er Jahre mit den führenden Persönlichkeiten des Stadtregiments rückhaltlos auf die nationalliberale und altkatholische Seite gestellt, auf der man für die Stadt Konstanz eine neue Aera gekommen sah“. Nur hat sich Napoleon natürlich so wenig auf die napoleonische „Seite gestellt“ wie Cäsar auf die der Cäsaren. Die radikalliberale, vehement antiklerikale Partei, bestehend aus Leiner und der übrigen „führenden Persönlichkeiten des Stadtregiments“, fand keine „Seite“ vor, sie formulierte Positionen und focht sie aus.
Da verrät Sprache eine zuletzt verhängnisvolle Auffassung, die, nachdem die Natur von der Geschichte eingeholt und überzogen worden ist, aus der Geschichte zuerst eine Natur macht, um sie schließlich in dem anonymen Welten statisch-naturhafter Mächte verschwinden zu lassen, an die der Bürger seine Verantwortlichkeit abgibt. „Man hatte vergessen“, fährt unser Chronist mit einer Naivität fort, die den Umschwung ahnen läßt, der sich in nicht einmal dreißig Jahren vollzogen hat, „daß gerade Konstanz seine historische Bedeutung zumeist der kirchlichen Vergangenheit des Orts, seinem alten Bischofssitze zu verdanken hatte.“ Ausgerechnet vergessen hatte man aber eben wohl keineswegs! Daß die Bürger ihren Wohlstand und den ihrer Stadt stets dem Bischof hatten abtrotzen müssen, der daraufhin schon im Jahr 1550 über den See verschwunden war. Schnell aber wird jetzt der Mantel der Versöhnung wieder herabgelassen, schnell wird Läuterung, ja Sühne dem Leser begütigend dargeboten. „Doch hat L. Leiner in späteren Jahren, als der Kulturkampf ausgetobt und mit Oberbürgermeister Otto Winterer, den er hoch verehrte, eine gemäßigtere Richtung Platz gegriffen hatte, gerne auch der kirchlichen Vergangenheit von Konstanz wieder gerecht zu werden versucht.“
Solche Verlautbarungen nach dem Muster von Wahnsinn und Läuterung, wie die den Zeitgenossen dargebotene, von Politik gereinigte Biographie des Ludwig Leiner sind zu lesen als Dokumente einer großen Befriedung und Entsagung. Man hat seinen Frieden gemacht, mit der Kirche und den Ultramontanen zumal. Dieser Friede ist Ausdruck eines halben Erfolgs und einer definitiven Niederlage. Niederlage der liberalen Partei: noch vor der Machtübernahme der Nazis wird sie restlos zersplittert und zur Bedeutungslosigkeit abgesunken sein. Die letzten Liberalen müssen Listenverbindungen eingehen, um überhaupt ein Häuflein der ihren in den Reichstag schicken zu können. Politisch überlebt der Bourgeois nur in Symbiose mit dem Herrenreiter, dem blutrünstigen Kleinbürger oder der ultramontanen Reaktion. Niederlage auch der Stadt Konstanz und ihres Umlands: in den achtziger Jahren wird endgültig sichtbar, was seither Provinz geheißen wird. Der industrielle, verkehrstechnische, bildungsmäßige Anschluß an die Zentren Karlsruhe und Mannheim im Norden, den die Seekreis-Liberalen bewerkstelligen wollten, ist verpaßt, das Gefälle von Metropole zu Provinz etabliert. Man hat seinen Frieden gemacht. Und der Frieden der Provinz ist seither – darüber kann der aus den Metropolen hereinwehende staatstragende Jubel nicht hinwegtäuschen – unlösbar verquickt mit tiefer Resignation, mit Mißtrauen, Etappenmentalität und Breitärschigkeit. Hier bestimmen die Pflöcke des Gartenzauns, wie ähnlich der Mensch dem Menschen noch ist. Die Provinz wehrt sich, indem sie mit spitzen Ohren Tonfall, Nasal- und Zischlaute registriert. Und als jüngst der neue erste Beigeordnete von Konstanz gewählt wurde, ein Rheinländer (das Bildungsdefizit der Provinz ist handgreiflich), da stellte ihn der „Südkurier“ als einen Mann „aus dem hohen Norden“ vor. Köln und Flensburg haben eben gemein: sie liegen jenseits der Landkreisgrenzen.
Autor: Jochen Kelter
lieber seemoz-leser,
der zweite teil kommt nächste woche.
red.
Großartig, dass Kelters Text jetzt wieder publiziert wird. Wann kommt der zweite Teil?