Die Kunst der Leiners (2)
Mit der jüngeren Vergangenheit der Konstanzer Bürgerfamilie Leiner befasst sich der zweite Teil von Jochen Kelters Essay „Die Kunst der Leiners“. In diese Zeit gehört die Herrschaft des Nationalsozialismus, der vor Konstanz nicht halt gemacht hat. Doch die Leiners pflegten nicht in SA-Uniform zu paradieren, dennoch wurden auch sie von dieser Zeit geprägt. Auf vielfachen Wunsch veröffentlichen wir dieses Mal auch den Originaldruck, als Faksimile gleichsam, aus dem „Nebelhorn“ Nr 15, 1982
Die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (1860, 1870, d. Red.) sind die Kampfjahre des aufgrund der bereits existierenden oder sich abzeichnenden Defizienzen besonders radikalen Konstanzer Liberalismus, der innerhalb des badischen Liberalismus sozusagen den linken Flügel darstellt. Es sind, mit seinem Eintritt in den Stadtrat im Jahr 1864, auch die Kampfjahre des Ludwig Leiner. Jahre, in denen seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten in Wissenschaft, Politik und Verwaltung zur größten Entfaltung kommen. Der naturwissenschaftlich wie literarisch, politisch wie historisch gebildete Leiner befand sich vollumfänglich auf der Höhe seiner Zeit, ein Bürger, dessen Problembewußtsein dasjenige vieler seiner Klassengenossen in den Zentren überstiegen haben dürfte.
Und um „Klassenkampf“ ging es: um die Anbindung der Seeregion an das industrielle Zeitalter, die gegen den Widerstand der klerikalen Reaktion und ihres Massenanhangs wie, nötigenfalls, auch gegen das Bürgertum im Norden durchzusetzen die Konstanzer Liberalen sich verschworen hatten. Der Zeitpunkt von Leiners gleichzeitigem Eintritt in den Stadtrat und den zur Durchsetzung der liberalen Bildungsvorstellungen so wichtigen Ortsschulrat erscheint auf diesem Hintergrund als Teil eines größeren strategischen Plans. Und der liberale Bürgermeister Strohmeyer zieht zwei Jahre später, 1866, aufgrund eines regelrechten Putsches ins Rathaus ein.
Die Liberalen etablieren sich als minoritäres Regiment, um die ökonomischen, verkehrs-, verwaltungs- und bildungsmäßigen Voraussetzungen des von ihnen erkannten Fortschritts zu schaffen. „Nicht Bedürfnislosigkeit, sondern Vielbedürftigkeit, ja Luxus, ist ein Kennzeichen gesellschaftlichen Wohlbefindens und Fortschritts“, heißt es in einer wohl aus den sechziger Jahren stammenden Schrift Strohmeyers. „Ein eigenes Haus, ein freies Eigenthum für den geringsten Arbeiter“. Die nicht nach Verwirklichung dieses Zieles strebten, seien „nichtsnutzige Menschen, vulgo Lumpen“. So kann das Pamphlet eines Bourgeois klingen, und unsere linke Schulweisheit muß schon bis zur Großen Französischen Revolution zurückbuchstabieren, um ähnliche Töne zu erinnern.
Die Liberalen erkannten, welch wichtiges Instrument zur Erreichung und Sicherung der von ihnen gewünschten Wirtschaftsform die Säkularisierung der Schule war. So nennt denn die liberale „Konstanzer Zeitung“ auch „die Teilnahmslosigkeit vieler Ortsgeistlichen für die Volksschule empörend“. Empörend war für die Liberalen nicht zuletzt die lasche kirchliche Aufsicht über den Schulbesuch. Die Beschäftigung der Kinder in Gewerbe, Landwirtschaft und Haushalt mochte den geistlichen Herren gegenüber als Entschuldigung durchgehen, die Liberalen waren nicht gewillt, solche Praktiken zu dulden. Ludwig Leiner als Vorsitzender des Ortsschulrats wacht streng über den Schulbesuch, befindet immer wieder, „daß die eingebrachte Entschuldigung nicht Platz greife“ und mahnt: „Ich bitte, mir stets die Schulversäumnisse genau und umfassend anzuzeigen. Es wird das Möglichste geschehen, dagegen anzukämpfen.“ Notfalls wird der Anerkennung dieses Prinzips mit Gendarm und Justiz Nachdruck verliehen.
Leiner war auch Mitinitiator der „Wessenbergvorlesungen“, dem schließlich gescheiterten Projekt einer Privatuniversität in Form einer Aktiengesellschaft mit dem Ziel, „ein örtliches Reservoir an bürgerlich gebildeten Kadern zu schaffen. Schon weil die Liberalen der Bildungsfrage einen so hohen Stellenwert beimaßen und so viel organisatorische Fantasie in sie investierten – sie versuchten etwa auch, das Theater als Instrument im Kulturkampf einzusetzen, sie organisierten das Vereinswesen, so den Arbeiterfortbildungsverein, die Keimzelle der lokalen Sozialdemokratie – muß man Ludwig Leiner als einen ihrer Protagonisten betrachten.
Als es auf dem Höhepunkt des Kampfes zwischen Liberalen und Montanen um die Stiftungsfrage, der Beschaffung notwendigen Kapitals aus dem „toten“ Kapital der kirchlichen Stiftungen, zur Exkommunikation des Bürgermeisters Strohmeyer kommt, ist es wiederum Ludwig Leiner, Mitglied des Verwaltungsrat der Distriktstiftung, der die große Protestversammlung der Bürger im Theater leitet. Zur Debatte stand, „ob – so zitiert ihn die „Konstanzer Zeitung“ vom 26.1.1869 – von seiten hiesiger freisinniger Einwohner eine mannhafte Erklärung geschehen solle.“ Aus den Worten, mit denen er die Versammlung eröffnet, spricht das Selbstbewußtsein eines kampferprobten und seiner Sache sicheren Mannes: „Die Herren haben mich beauftragt, die Versammlung zu eröffnen und ich nehme keinen Anstand dies zu thun, da ich mit unter den Männern stand und mitarbeitete, die Kraft der Gemeinde wieder zu heben und für ihr Wohl das anzustreben, weswegen unser hochverdienter Bürgermeister den Haß der Ultramontanen auf sich zog.“
Keine Spur von Etappenmentalität, Leisetreterei und jenen provinziell geschraubten Unverbindlichkeiten, in deren Gefolge die Fußangeln eingezogen werden. Schließlich gilt es noch, das Bild des Stadtplaners – auf dessen Entwurf etwa der Stadtgarten angelegt wurde – und des Denkmalpflegers zurechtzurücken, dessen bewahrende Züge in den schon vom Historismus getränkten Zeugnissen der Jahrhundertwende fraglos überzeichnet sind.
Nichts gibt Grund zu der Annahme, hier habe einer im Stil moderner Denkmalpfleger versucht, eine gewachsene Stadtlandschaft vor der Zerstörung zu retten, Spuren der Vergangenheit gegen Profitinteressen zu sichern. Im Gegenteil hat die Vergangenheit in Leiner einen Mann des Fortschritts zum Vormund, in dessen stadträtliche Kompetenzen auch „öffentliche Einrichtungen, Armenpflege (ein weiterer Hinweis, wie sehr Leiner im Kampf um die Säkularisierung kirchlicher Befugnisse engagiert war) und Hygiene“ fallen und in dessen Amtszeit das mittelalterliche Stadtbild fast völlig verschwindet. Die tiefgreifende Umgestaltung der Stadt zum Wohle der neuen Zeit ruft den Historiker auf den Plan, Straßenbau und Kanalisation fördern die römischen Fundamente zutage, um die sich zwölfhundert Jahre lang niemand geschert hat.
Mit dem Verschwinden der mittelalterlichen Stadt entsteht ihre imaginäre Chorographie. Mit der Auslöschung realer Lebensräume wächst das theoretische Wissen über ihre Entstehungsgeschichte. Der Chorograph sammelt Belege. Als das Patrizierhaus zur „Leiter“ abgerissen wird, läßt Leiner das Renaissanceportal in den Erweiterungsbau des Rosgartenmuseums einfügen, „als ob es immer dorthin gehört hätte.
„Bessere Ernährung, höhere Bildung, städtische Interessen und nervöse Hast auf das Land verpflanzen, das hieße den Bauernstand an seiner Wurzel angreifen.“ Das Zitat aus dem Jahr 1895 stammt von einem Mann, der als Redakteur der „Konstanzer Zeitung“ von 1867 – 1883 Kampfgenosse des Bürgertums und seines Bürgermeisters war. Vergessen der Plan, mit dem Strohmeyer knapp dreißig Jahre zuvor die Allmende, das Gemeindeland vor den Toren der Stadt, zu kapitalisieren versucht hatte? Eine jener Maßnahmen, die, als Kapitalbeschaffung konzipiert, gleichzeitig dazu angetan war, die unteren Schichten, indem man ihnen die Selbstversorgung entzog, zu proletarisieren und zu verstädtern. Redakteur Ammon hat sich vom Vorreiter des kapitalistischen Stadtbürgertums zum Feind urbaner Zivilisation gemausert, vom kämpferischen Fortschrittsjünger zum bigotten Hüter der Borniertheit des flachen Lands.
Ludwig Leiner übergibt die Apotheke 1881 an seinen Sohn Otto, den er im übrigen bei seiner Ernennung zum Ehrenkonservator zehn Jahre später gleich zum Konservator bestimmen läßt, und scheint sich fortan hauptsächlich seiner Museumsarbeit zu widmen. Gleichwohl kann weder bei ihm noch bei anderen Weggenossen wie dem zitierten Zeitungsmann die Rede davon sein, daß sie sich resigniert ins Privatleben verzogen hätten. Sie wechseln eher unmerklich das Lager oder geben dem eigenen Lager unter Beibehaltung des Namens einen neuen Anstrich.
Leiner sitzt bis zu seinem Tod im Gemeinderat und „bewirkte“, wo er zuvor die Säkularisierung der Straßennamen patroniert hatte, nun, „daß eine im Stadtteil Petershausen entstandene neue Hauptstraße zu Ehren des Bischofs St. Gebhard den Namen Gebhardstraße erhielt. Seine Idee war es auch, daß bei der Aufstellung eines laufenden Brunnen in der Vorstadt Paradies dieser mit der Statue des hl. Lienhard geschmückt wurde.“
In der Zeitspanne einer einzigen Generation vollzieht sich so der Wechsel vom Rednerpult zum Lehnstuhl, vom citoyen zum bourgeois, vom Ortsschul- auch zum Hofrat. Man macht seinen Frieden und wohl seinen Schnitt, wenn der auch geringer ausfällt als der vorher beschworene Luxus, die Befriedigung der „Vielbedürftigkeit“, die die Libealen in ihrer Vision eines goldenen Zeitalters proklamiert hatten.
Nach dem Ende des Kulturkampfs muß die antiklerikale Bourgeoisie erheblich zurückstecken. Die Sogwirkung Preußens, die damit einhergehende nationalliberale Wende in Baden und schließlich die Reichsgründung machen den Seekreis endgültig zum toten Winkel, zum Randgebiet, das fortan nicht mehr hoffen kann, aus eigener Kraft an der allgemeinen Entwicklung teilzuhaben. Die Provinz etabliert sich. Pulsschlag und Herz stellen sich ein. Wer ganz bei sich war, wird außer sich sein. Aus dem Bürger, dessen Fühlen, Denken und Handeln eine Einheit bildeten, wird jener entrückte Patriarch, den Vokabeln der Entäußerung beschreiben: Disziplin, Großmut, nie rastende Arbeit.
1930: In Konstanz finden Kommunalwahlen statt. Bruno Leiner, Sohn des Altstadtrates Otto Leiner, zieht als Stadtverordneter der Deutschen Staatspartei, einer der beiden auf Reichsebene unbedeutenden liberalen Parteien, in den Bürgerausschuß ein. Januar 1931: Otto Leiner, Stadtrat von 1901 bis 1912, Konservator, Stadtarchivar, Kunst- und Denkmalspfleger des Bezirks, Mitglied des Kunstvereins, des Verschönerungsvereins und des Vereins für die Geschichte des Bodensees, stirbt in Konstanz.
Die „Konstanzer Zeitung“ widmet dem Ereignis drei Artikel. „Er war ein Vorbild eines echten Bürgers und hat sich seinen Vätern würdig gezeigt“. Der Oberbürgermeister sagt am Grab: „In selbstloser Weise hat Otto Leiner das Erbe seines Vaters, das Rosgartenmuseum, in vierzigjähriger Arbeit als Konservator treu verwaltet und wesentlich ausgebaut.“ Auswärtige Trauergäster werden nicht vermeldet.
1932: im Adreßbuch der Stadt Konstanz, das damals wie heute im Verlag Stadler erscheint, der zwischenzeitlich auch die „Bodensee-Rundschau“, das Parteiblatt der Nazis verlegt, das schließlich auch die „Konstanzer Zeitung“ verdrängt, findet sich unter „Freimaurerloge e.V.“ der Eintrag: Vorsitzender: Dr. Leiner Bruno, Malhausapotheke. Der Bodenseegeschichtsverein führt Bruno Leiner als Vorstandsmitglied und Vertrauensmann für Baden.
1933: die „Konstanzer Zeitung“ begrüßt das Wahlergebnis vom 5. März. „Selbst eine Diktatur Hitlers würde nach dem gestrigen Plebiszit einer gewissen Legalität nicht entbehren. Diesen Schein der Verfassungsmäßigkeit unter allen Umständen aufrecht zu erhalten, wird das Bestreben aller bürgerlichen Parteien sein.“ 1934: im Adreßbuch der Stadt Konstanz findet sich unter „Bürgerverein Bodan“, dem bereits Ludwig Leiner angehört hatte, folgender Eintrag: Führer: Dietrich, Volksschulrektor, stellv. Führer: Dr. Leiner, Bruno, Apotheker. Besagter Dietrich wurde 1932 noch als „Sängerpräsident“ geführt. Den Vereinspräsidenten und sozialdemokratischen Bürgermeister Arnold, den er als „Führer“ ablöst, findet man 1934 nicht mehr verzeichnet. Auch die Freimaurerloge e.V. ist nun nicht mehr eingetragen. 1939 und auch 1943 hat Bruno Leiner im Bürgerverein Bodan zusätzlich das Amt des Sangwarts inne. Danach wird das Papier knapp. Bereits Mitte 1945 gehört Leiner, wie der neugegründete „Südkurier“ (am 8.9. 1945) meldet, dem „beschließenden Ausschuß“ an, der dem Stadtoberhaupt als Beschluß- und Vollzugsorgan zur Seite steht.
Drei Tage später greift er selber zur Feder und berichtet über die Arbeit des „Widerstandsblocks“: „Wohl war es nicht nötig geworden, durch Einsatz des Lebens die Existenz der Stadt Konstanz zu erhalten, was heute den einen oder anderen veranlassen mag, über die Widerstandsbewegung zu lächeln. Wie unberechtigt ist das! Denn das Entscheidende war, daß diese Männer als eine geheime Schutzwache dastanden, bereit, sich einzusetzen, wenn die Umstände es erfordert hätten.“ (Südkurier, 12.9.45).
Der Widerstandsblock ist in der kurzen Zeit der verschütteten Strukturen und des politischen Vakuums mit Entnazifizierung und Requisition beschäftigt und fungiert „da und dort als vermittelndes Glied“ zwischen „französischen und deutschen Behörden“ (Südkurier, 12.10.45). Leiner, „städtischer Kunstreferent“, „Leiter des Kulturausschusses“ (Südkurier, 16.10.,4.12.45), nimmt im Oktober unter der Überschrift „Zukunft des deutschen Südens“ Stellung (Südkurier, 16.10.45) und meldet sich im Monat darauf noch einmal, zur Entnazifizierung zu Wort: „das Wichtigste wäre, daß von Seiten der früheren Parteianhänger selbst in jener Situation vom Nationalsozialismus als einer erledigten Sache (sic!) abgerückt würde.“ (Südkurier, 2.11. 45).
Am 6. November tritt Leiner bereits als Chef des Widerstandsblocks zurück. Die Meldung in der Zeitung ist knapp und kommentarlos, das Schreiben, mit dem er den Oberbürgermeister in Kenntnis setzt, umfaßt drei Zeilen. An seine Stelle tritt der kommunistische Redakteur Goguel. Zu Ende des Jahres spricht das Lokalblatt vom „ehemaligen Widerstandsblock“.
1946: am 1. Juni eröffnet Leiner die Konstanzer Kunstwoche, die bei der Bevölkerung nicht auf allzu große Gegenliebe gestoßen zu sein scheint. Das Einwohnerbuch der Stadt Konstanz für das, Jahr 1951 weist wieder eine Freimaurerloge aus: „Constantia zur Zuversicht“ und als ihren Vorsitzenden Bruno Leiner. Am 11. Dezember 1954 stirbt in Konstanz der Konservator des Rosgartenmuseums und langjährige Vorsitzende des Kunstvereins, Präsident des Bodenseegeschichtsvereins, Präsident des Bürgervereins „Bodan“ und nach dem Kriege erster Bundesvorstand des Bodensee-Hegau-Sängerbundes, der Vorsitzende des Kirchenvorstandes und Mitglied des Landessynodalrates der altkatholischen Kirche, Altstadtrat Bruno Leiner.
Der Lebensweg eines Bürgers aus der Provinz, der als Sangwart die dunkelsten Jahre überwinterte, ideellen Widerstand leistete und nach der Katastrophe wieder jenen Platz in der während zwölf Jahren durcheinander geratenen Rangordnung einnahm, der ihm gebührte?
Eine zweite, nur scheinbar andere Version lautet so: Bruno L. hat irgendwann – der Zeitpunkt ist nicht auszumachen – einen Aufnahmeantrag an die NSDAP gestellt, der indessen, weil er Freimaurer, natürlich lokal führender Freimaurer war, abgelehnt worden sein soll. Dies steht im Gedächtnis der Provinz, aber sie schweigt. Aktenkundig ist nichts. Der belastende Schriftwechsel soll – zu einem ebenfalls nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt – in den Monaten nach Kriegsende im Schaufenster der Buchhandlung Ackermann im Stadtzentrum in der Kanzleistraße, linker Hand, wenn man den Laden betrat, ausgelegen haben. Als Urheber der Aktion werden die Kommunisten vermutet. Ackermann, dessen Vater das Konstanzer Regiment 1914 auf der Marktstätte mit markiger Rede in den Krieg verabschiedet hatte, war SS-Mitglied, seine Frau in der NS-Frauenschaft gewesen. Die Buchhandlung mußte Anfang der fünfziger Jahre schließen. An ihrer Stelle befindet sich heute ein Fischgeschäft (‚eigentlich schade`, gibt ein als progressiv bekannter Buchhändler der Stadt zu bedenken).
Leiners Aktivität im Widerstand hingegen scheint, will man dem Gedächtnis der Provinz Glauben schenken, eher in die Zeit nach Kriegsende als Vorsitzender des Widerstandsblocks zu fallen. Anders ausgedrückt: als der Wind drehte – und der Luftzug mag am See besonders spät spürbar geworden sein: die Franzosen standen am Rhein, die Franzosen standen im Schwarzwald, die Franzosen standen vor Donaueschingen -, entschied sich Bruno Leiner für die Seite der Sieger, mit ganzem Herzen, dies sei ihm durchaus konzediert. Dies mag ihm (und nicht nur ihm) immerhin um so leichter gefallen sein, als, wer einmal schon im Schwarzwald steht, nun wirklich mit größter Wahrscheinlichkeit auch siegen wird. Möglich auch, daß die Ablehnung seines Angebots, beim NS-Regime mitzutun ( wenn es dieses Angebot, woran wenig Zweifel besteht, denn wirklich gegeben hat), Ressentiments geschürt oder verstärkt, jedenfalls Klarsicht und die Entscheidung für den Widerstand kurz vor dem Ende befördert hat.
Nicht unterschlagen werden soll, daß Leiner in einem Haus am Lorettosteig den von den Nazis geächteten Spätexpressionisten Karl Hofer beherbergte, während er selber zu jener Zeit in der Paradiesstraße wohnte und während Sohn Ulrich – der jetzige Stadtrat – auf dem Döbeleplatz als Pimpf der Hitlerjugend vorturnte. Seine Kinder mußte man nicht zur HJ schicken, sagt die Witwe eines Widerstandsmanns, dem man seine Gesinnung um so eher glaubt, als er für sie zwölf Jahre Berufsverbot auf sich genommen hat. Seine Kinder wollte man zur HJ schicken. Und gar erst als Vorturner.
Bruno Leiner engagiert sich im Widerstand, der sich kurz vor Kriegsende in Konstanz im geheimen zu verabreden begann. Seine alten Verbindungen werden ihm zustatten gekommen sein. Es galt ja auch, sich mit Blick auf die Zeit nach Kriegsende wieder dorthin zu bringen, wo man als Leiner hingehörte: an die Schalthebel, in die Spitze der lokalen Gesellschaft. Und schon dafür mußte ein Einsatz gewagt werden, sich bedeckt zu halten allein genügte nicht. Immerhin klingen die Äußerungen, die der Widerstandschef Leiner im August 45 im „Südkurier“ macht, ein wenig nach schlechtem Gewissen, nach Hasenfüßigkeit auch. Leiner gibt sich wortkarg, aber empfindlich. Die Stoßrichtung seines Artikels läßt darauf schließen, daß es Stimmen gegeben hat, die an den Mythos von der „geheimen Schildwache“ nicht so recht glauben mochten. Genau den aber scheint Leiner als Legitimation für seine neuerlich einflußreiche Stellung benötigt zu haben.
Schlechtes Gewissen macht empfindlich, und Konvertiten und andere, die sich ihrer Herkunft nicht völlig sicher wähnen, neigen zu besonders strenger Auslegung der Lehre. In der im „Südkurier“ während des Herbstes 1945 geführten Debatte um die inskünftige Stellung der ehemaligen PGs im öffentlichen Leben nimmt Leiner eine vergleichsweise harte Haltung ein. Er weist darauf hin, daß die „Reinigungsbestimmungen“ in der französischen Besatzungszone vorerst „noch milde sind“. Wenn er die alten Nazis auffordert, „zuchtvoller“ zu sein, um sie nicht aufs Spiel zu setzen, gibt er damit zu verstehen, daß seine Maßstäbe Kriterien des Opportunismus sind, die mit appellativen inhaltsleeren Vokabeln wie Zucht und Würdelosigkeit (als könnten die moralischen Kategorien von Ehre und Würde auf eine Partei von Massenmördern Anwendung finden) aufgeladen werden.
Da wird noch einmal das moralische Ritual, der drohende Zeigefinder eines ins Korsett gepreßten Bürgertums sichtbar. Er schreibt, „von Fall zu Fall“ seien „schärfere Zugriffe zu befürworten“, es dürfe nicht Wunder nehmen, „wenn selbst gemäßigte Leute sich gezwungen sehen, extrem zu werden“. Und sein Artikel gipfelt in einer geschmacklosen Entgleisung, bei der man dann allerdings den Verdacht nicht mehr los wird, daß bei ihrer Formulierung autobiographische Motive Pate gestanden haben: „Der überwiegende Teil der Mitglieder des Widerstandsblocks ist tatsächlich im Gefängnis, Zuchthaus oder KZ gesessen und die anderen kamen mit wenigen Ausnahmen nur deswegen an allen diesen Einrichtungen vorbei, weil sie vielleicht disziplinierter oder überlegter waren“. KZ-Haft als Folge mangelnder Intelligenz oder mangelnder Selbstzucht! Auch vor solch törichter Beleidigung macht die Exkulpationsstrategie eines verunsicherten Bürgers nicht halt.
Bleibt eine Frage, die letztlich nicht zu beantworten ist, jene nämlich nach dem Grund für den plötzlichen und unvermittelten Rücktritt Leiners als Chef des Widerstandsblocks. War schlechtes Gewissen der Auslöser für diesen Schritt? War gar etwas ruchbar geworden, was antifaschistische oder sonstige Kreise als Druckmittel hätten benutzen können? Wurde Leiner das Geschäft, Persilscheine auszustellen oder sie zu verweigern, auf die Dauer zuwider? Hielt er seine Tätigkeit mit Blick auf die Zukunft für inopportun? Sah er den Zeitpunkt bereits für gekommen, um sich von der Vergangenheit ab- und dem Alltag der Gegenwart zuzuwenden? Vielleicht auch hat eine Mischung aus mehreren Motiven den Ausschlag gegeben. Eine Antwort auf die Frage bleibt, wie gesagt, spekulativ, weil befriedigende Fingerzeige fehlen.
Ein Bürger kehrt zurück an seinen und seiner Familie Platz als Vordenker der lokalen Gesellschaft. Noch vor seinem Rücktritt als oberster Widerständler nimmt Leiner im Oktober zur Frage nach der Zukunft von Konstanz und der Region ebenfalls in der Zeitung Stellung. Die Position, die er vertritt, ist im Zusammenhang seiner Familiengeschichte um so interessanter, als sie dem Zukunftsbild, das einst sein Großvater Ludwig und dessen Weggenossen entworfen hatten, diametral entgegensteht. Nicht mehr Industrialisierung heißt der Schlüssel zu einer besseren Zukunft, sondern Entsagung auf Teilnahme am Fortschritt, sofern dieser technisch industrieller Natur ist. Die Ziele des Großvaters tut der Enkel als Irrtümer und Mißgriffe ab: „…auch der Einbruch der Industrie im 19. Jahrhundert konnte letzten Endes die wesentliche Grundhaltung der Landschaft nicht verändern.“
Der durch die gesellschaftliche Entwicklung zu Ende des 19. Jahrhunderts orientierungslos gewordene Bürger flieht aus der Geschichte. Die Natur ist wieder in ihr Recht gesetzt, ihre Metaphorik hat das Sagen, sie wird personifiziert und den Menschen neuderdings entrückt: eine Landschaft hat eine Grundhaltung, der Einbruch der Industrie gleicht dem eines aufziehenden Unwetters. Die Tilgung des Historischen und also der Machbarkeit der Verhältnisse, wie sie sich schon im Nekrolog auf den Großvater Ludwig Leiner vollzieht, findet in der Standortbestimmung des Enkels Bruno ihren Abschluß. Als Projektion der eigenen Irritation überwindet er die Geschichte und entdeckt das Ewige wieder. „Die Gesetze einer Landschaft sind ewig. Sie waren vor Jahrhunderten dieselben, d.h. soweit die Landschaft nicht durch irgendwelche kosmischen Ereignisse in ihrem Charakter verändert wurde. Unter der gleichen Sternkonstellation standen immer die Menschen.“ Die Menschen, so Leiner, haben sich seither „ durch zivilisatorische Einflüsse“ lediglich von ihrem eigenen Wesen entfernt.
Fazit: als Alternative zu einer in ihrem Ausgang unberechenbaren, gefährlichen, den Menschen sich selbst entfremdenden Teilnahme an der industriellen Zivilisation wird eine Hinwendung zur Kunst, zur Kultur (und zum Fremdenverkehr) angeraten. Die Bodenseelandschaft kann „nur eine Funktion“ haben: „die der geistig künstlerischen.“ Es war „einzig das geistig-künstlerische Leben, das hier am Bodensee und in Konstanz eine Erfüllung fand.“ Der aus der Geschichte geschleuderte Bürger sucht ein Refugium in einem kompensatorischen und antiquierten Kunstbegriff: Kunst und Kultur stehen da nur noch als Metaphern für den Rückzug aus der Welt.
Der Kulturbegriff Bruno Leiners ist ein resignierter, ein artifizieller dazu, weil er nicht mehr – wie das in der Tätigkeit Ludwig Leiners in hohem Maß der Fall war – Ausfluß und Konsequenz praktischer Lebensumstände und -aufgaben ist, sondern sich von der Lebensumwelt abnabelt. Kunst kann, wenn sie um das Leben, um die materielle Basis gekappt und in ein Spitzwegsches Illyrien versetzt wird, keinen Bestand haben.
Wen wundert es mithin, daß der Urenkel Ulrich Leiner vom Weltbild seines Vaters längst Abschied genommen hat. Er versucht sich aber auch gar nicht mehr am Entwurf einer kongruenten Weltschau mit Zuschnitt auf die Region. Der Bürger hat endgültig darauf verzichtet, sein Tun in einen dauerhaften Gesamtzusammenhang zu stellen, dazu eine Dialektik von theoretischem und praktischem Handeln zu entwickeln und also Geschichte zu machen. Stattdessen schwimmt man mit den Zeitläufen, die anderswo ihren Ursprung nehmen, mit und versucht, sich so gut es eben geht obenauf zu halten. An die Stelle einer Vision, eines Auftrags ist die sogeannte Realpolitik getreten, will sagen: man drückt nicht der Politik, sie selbst drückt einem ihren Stempel auf.
Ulrich Leiner bekennt sich zum Autobahnanschluß (der der weiteren Verwüstung der Region gleichkäme), zur Industrieansiedlung und zur Intensivierung des Fremdenverkehrs. Er treibt als Vorsitzender des Kunstvereins eine bisweilen merkwürdige, vor allem jedoch (im Vergleich zu vergleichbaren Städten) eher provinzielle Kunstpolitik, hat seiner Schwester – die indessen keineswegs immer die politischen vor allem baupolitischen Voten ihres Bruders gutzuheißen scheint – die Leitung des Rosgartenmuseums überlassen und macht schließlich, aber keineswegs zuletzt, Rathauspolitik. Kaum eine Personal- oder Sachentscheidung des Stadtrats, bei der Leiner es nicht verstehen würde, die Fäden zu ziehen, den entscheidenden Trumpf zu besitzen und sich und seiner Fraktion somit fast permanent die Rolle des Schiedsrichters über die Stadtgeschäfte zuzuschanzen.
Leiners Einfluß übertrifft so bei weitem den seiner öffentlichen Ämter. Als „ungekrönter König des Bürgerblocks“ stellt er ein Phänomen dar, das letztlich auch für die Eigentümlichkeiten seiner Vaterstadt steht. Er sitzt einer Ratsfraktion vor, deren „unpolitische“, antiklerikale Tradition, die frei ist von den Verpflichtungen der christlich sozialen Ideologie der CDU ihr erlaubt, die Interessen des Privatbürgers andauernd und mit Geschick und Erfolg zur res publica zu deklarieren und sie, je nachdem hemdsärmlig, schlau oder diplomatisch, zu einem entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Stadt am See zu machen.
Ulrich Leiner bestitzt keinen männlichen Erben. Äußeres Zeichen einer inneren Entwicklung? Zweifellos aber wird noch einige Zeit der dem Konstanzer Historiker Arno Borst zugeschriebene Aphorismus Gültigkeit haben, der lautet: in Konstanz gibt es drei Geschlechter, das männliche das weibliche und das der Leiner.
Autor: Jochen Kelter
Chronik einer bürgerlichen Familie aus der Povinz 2. Teil „Die Kunst der Leiners“