Die Presse war schuld (27)

aus: Nebelhorn Nr. 49, Juni 1985, von Jochen Kelter

Das Thema „8. Mai“ ist so abgelutscht, daß man gar nicht umhin kann, noch einmal darauf zurückzukommen. So siehts’s auch der „Südkurier“. In dieser Meinung wohl bestärkt durch die eigene Berichterstattung, die die treue Leserschaft seltsam ratlos zurückließ (der geneigte Leser möge dazu meine Fußnoten aus dem Mai vergleichen), fährt unser unabhängiges Magenblatt am 10. Mai zum Beweis gleich zwei auswärtige Kommentatoren auf. Die „schließen das Thema jetzt ab“. Merke: Geister, die man rief, lassen sich selten durch einen Tritt in den Hintern verjagen. Welcher der beiden Kapazitäten wollen wir auf ihren unabhängigen Pfaden folgen? Thilo Koch? Nein, nicht der schon wieder! Otto B. Roegele, Christ von Welt und Mitherausgeber desselben, hat mich mehr überzeugt. Weil er so hinreißend darlegt, wer an dem ganzen Schlamassel von Anfang Mai schuld ist und uns unseren schönen Geburtstag ohne Juden, Kommunisten und Intellektuelle so gründlich versaut hat.

Und wen hat unser Christ vom Dienst als Schuldigen ausgemacht? Helmut Kohl? Ronald Reagan? Mitnichten! Die Presse, das Fernsehen, „weil der Zuschauer kein Vertauen mehr haben kann, wenn ihm eine künstliche Medienrealität statt der Wirklichkeit vorgesetzt wird.“ Das läßt aufhorchen, wie? Ein echter Christ, der die „künstliche Medienrealität“ geißelt, in der die beiden B-Film-Darsteller durchs judenfreie KZ Bergen-Belsen marschieren, über den Gräbern von Kriegsverbrechern Verbrüderung spielen und von Barockschlössern, Ehrenkompanien und aufgeblondeten Ehefrauen garniert in die Glotze grinsen. „Fernsehen wird ja nicht in erster Linie veranstaltet, damit einige Journalisten ihren Witz … demonstrieren, sondern zur Information der Staatsbürger.“ Donnerwetter, jawoll! Merke: „die künstliche Medienrealität“ macht Kabarettisten und Witzemacher arbeitslos.

Diese Brüder, die ihr Treiben gerne hinter der Tarnbezeichnung Journalismus verbergen, haben ja alle eine perverse Fantasie. Wie jener amerikanische „Fotoreporter“, der „in Bitburg vergeblich nach sensationsträchtigen Motiven suchte.“ „Er war nach Deutschland geschickt worden, um Beweise für die Gegenwärtigkeit Hitlers zu suchen“. „Da die einfachen Gräber“ „mit den ominösen SS-Runen“ (atemberaubend schlicht sozusagen) „nicht genug hergaben“, von Adolf Hitler weit und breit nichts zu sehen war und nur die Überreste von ein paar SS-Divisionen weit weg im Allgäu Wiedersehen feierten, griff der Kerl zur Selbsthilfe, „arrangierte er zwei gekreuzte schwarzweißrote Wimpel und baute mit Blumen … eine Art Altärchen auf. Nun konnte er abbilden, was er zeigen wollte“. Man faßt es nicht!

Und wenn ein Witzbold von WDR-Redakteur Schauspieler in die Rolle der beiden Schauspieler schlüpfen und sie verkünden läßt, Bitburg und Bergen-Belsen seien abgesagt und man werde stattdessen über dem Gefängnis von Rudolf Heß mit dem Flugzeug ein paar Runden drehen, „muß er damit rechnen, daß dies nicht für ‚Satire‘ … sondern für bare Nachrichten-Münze genommen wird.“

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

So wirkt sie sich halt aus, die „Information der Staatsbürger“ im Fernsehen. Und wer noch nicht so verblödet ist wie jene „Staatsbürger“, für die Otto Roegele schreibt, hat seinen Beruf verfehlt.

Schließlich ruft unser Christenmann noch den Vorsitzenden des amerikanischen Journalistenverbands, der vor einem „verantwortungslosen, nur auf Effekte ausgehenden Journalismus“ gewarnt hat, als Zeugen an. Otto B., alter Junge, klingelt da eigentlich nichts bei Dir? Aber wahrscheinlich ist es müßig, jemandem eine solche Frage zu stellen, der sein Leben lang nichts gehört hat außer dem Sturmläuten der Petersdom-Glocken im Kopf

Sunny                                                                                                                                                      Juni 1985