Die Türken besetzen Berlin (11)
aus: Nebelhorn Nr. 32/33, Dezember 1983, von Jochen Kelter
„Die Aktionswoche der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung endete weder im Chaos noch in der Bedeutungslosigkeit.“ Sondern im „Südkurier“. Da hatte Vizechef Appenzeller noch am 24. Oktober gut frohlocken und nahm auch gleich den drohenden Zeigefinger zur Hilfe: „Ob die Friedensbewegung auch eine friedliche Bewegung bleibt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.“ Andere zeigten’s schon gleichen Tags. Am 24. Oktober landeten die Amerikaner in Grenada und demonstrierten auf ihre Weise, was denn von so viel Friedfertigkeit zu halten sei. Aber beim „Südkurier“ in Konstanz hatte natürlich wieder niemand vorher angerufen.
Mithin für einen Zeitungsmann eine echte Aufgabe, die den ganzen westlich demokratischen Journalisten fordert. Da muß sich einer schon schnell was ausdenken oder noch besser: fix formulieren können. Und dafür hat Franz Oexle den Appenzeller. Der meldet sich schon am 26. Oktober wieder auf der Titelseite: „Die vom Weißen Haus angestrebte Bereinigung des Konflikts um Nicaragua und El Salvador auf diplomatischem Wege wird damit zunächst unmöglich gemacht.“ Aha. Da scheint also inzwischen doch jemand beim „Südkurier“ antelefoniert und denen verklickert zu haben, wie’s in Mittelamerika weitergehen wird.
Gerd Appenzeller langt heißes Eisen an: „kritische Beobachter vergleichen Reagans Erklärung, die USA seien zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung gerufen worden, gar mit Breschnjews Begründung für den Überfall auf die CSSR im Jahre 1968.“ Gut, nicht, daß nur „kritische Beobachter“ auf so etwas kommen können, man muß wahrscheinlich schon Kommunist sein, um solche abwegigen Vergleiche zu ziehen. Ein bißchen ins Schwitzen kommt immerhin sogar ein gesund denkender Leitartikler: „Etliches spricht dafür, dass die USA die Begründung für ihren Schritt … nicht nur nachliefern müssen, sondern auch können.“ Die werden doch wohl einen strammen NATO-Doppelbeschluß-Befürworter nicht so hängenlassen, wie? Aber der Glaube versetzt ja bekanntlich Berge.
Und den hat Gerd Appenzeller, nachdem er zwei Nächte hat drüber schlafen und tagsüber kräftig hat durchatmen können, am 29. Oktober wiedergefunden. Da hat er denn wieder die Puste, um zu einem richtigen Wochenend-Leitartikel auszuholen, da kleckert er nicht, da klotzt er ran. „Die westliche Führungsmacht“ (auch das Übervater-Vokabular hat sich über Nacht wieder eingestellt) „wehrt sich dagegen, mit jener UdSSR gleichgesetzt zu werden, die 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR und erst kjürzlich in Afghanistan ihre Militärmacht einsetzte…“ Recht hat sie, die Führungsmacht, die westliche. Das ist auch schließlich was anderes als das Wegputschen von Regierungen 1953 im Iran und 1973 in Chile, die Landung im Libanon 1958 oder in der kubanischen Schweinebucht 1961, was ganz anderes als der Vietnam-Krieg, nicht? Wie fortgewischt ist kränkelnde Gedankenblässe und mit ihr jeder Hang zur Schwächung westlicher Geschlossenheit. Wie heißt es in der kommunistischen Kaderschulung: Was wir machen, ist stets grundsätzlich und substantiell verschieden von dem, was der Klassengegner tut, so sehr sich auf den ersten Blick die Bilder gleichen mögen. Na eben!
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Gefangene „sowjetische Militärberater“ hatte und der Gerd am 26. Oktober versprochen. Etwas voreilig, leider. Drei Tage später sind sie verschwunden, aber „die starke kubanische Präsenz auf der Insel ist Beweis genug“. Klar doch. Und wie sieht die aus? „Fast 2 000 schwerbewaffnete Kubaner“ hat er ausgemacht, der Gerd. Fast. Zuerst waren’s 3 000, dann 2 000, dann 1 000, schließlich gab ein amerikanischer Sprecher zu verstehen, die kubanischen Angaben über 750 Bauarbeiter auf der Insel dürften’s wohl treffen. Aber die immerhin hatten alle ein Schießeisen bei sich! Womit hinlänglich bewiesen wäre, daß sie’s auf die Eroberung der Karibik abgesehen hatten.
6 000 Mann US-Luftlandetruppen und Marines sind demnach in Grenada gelandet, um das nackte Leben von 1 000 amerikanischen Staatsbürgern gegen 750 Kubaner zu schützen. Warum sind eigentlich nicht 8 000 Kubaner nach Grenada geschickt worden? Mich kränkelt sie schon wieder an, Gerd, die Gedankenblässe. Wenn das um sich greift, haben wir demnächst eine Besetzung Berlins durch türkische Fallschirmjäger zu erwarten, ja? Oder die Italiener marschieren in Süddeutschland ein?
Du meinst, man dürfe das nicht so eng sehen? Es sei ja schließlich eh wurscht? „Um die Freiheit der Bevölkerung Grenadas war es jedenfalls bereits geschehen, bevor die Amerikaner dort landeten…“ Du meinst also, die kommen erst …? Okay, ich werd‘ mich nicht wundern, wenn ich beim Sonntagsausflug demnächst von amerikanischer Militärpolizei kontrolliert werde.
In einem seiner schwermütig wetterfühligen Klarsichtkommentare sieht Chefredakteur Franz Oexle amd 12. November die Demokratie, „aufgeputscht durch den Glaubenskrieg um den Frieden“, „durch Kampfgeschrei“ „im Herbstnebel“ verschwinden. Komm an mein Herz, Franz, und laß Dich umarmen.
Sunny Dezember 1983