Ein Bomben-Abschuß oder Volles Rohr nach Osten (9)

aus: Nebelhorn Nr. 29, Oktober 1983, von Jochen Kelter

Am 3. September mosert er auf der Frontseite des „Südkurier“ unter der Überschrift „Damals im September“ noch rum, der Franz Oexle. Damals vor 44 Jahren nämlich hatte der 2. Weltkrieg endgültig angefangen. „Den berufsmäßigen Vergangenheitsbewältigern sei ins Gedächtnis  gerufen: Die Mehrheit der Deutschen folgte Hitler im September nicht mit Begeisterung in das Abenteuer der Eroberungen.“ Übelgelaunt sind sie in Polen einmarschiert, mißmutig haben sie französische Dörfer zusammengeschossen und englische Städte bombardiert, mürrisch die Russen massakriert. Mein Gott, war das eine Scheißstimmung damals!

Doch zum Glück steigt die Laune, der Adrenalinspiegel auch. Oexle am 5. September: „Millionen Menschen … stehen immer noch unter Schock … Die Empfindungen reichen von Empörung bis zu Ratlosigkeit, die sich in viele unbeantwortete Fragen hinein verliert.“ Und mitten in der hellsten Aufregung dieser geradezu poetische Sinn für die letzten Dinge! Ein Hauch von Verlorenheit ob so vieler unbeantworteter Fragen. Oexle am 10. September: Es „rollt eine Welle des Entsetzens, der Empörung, aber auch des verbissenen Hinnehmen-Müssens durch viele Länder und Völker.“ Die Welle rollt durch Volk und Land. Die Welle des Hinnehmen-Müssens. Ach, Franz!

Was ist passiert? „Massenmord über der Wolkendecke“. Donnerwetter, das kam aber gelegen, wie? Ich hab ja schon vor einem Monat vermutet, daß die bald was finden würden, um nicht dauernd vom Aufschwung reden zu müssen. Aber dass es so bombig1 kommen würde, hatte ich nicht geahnt. Wer jetzt noch nach Entspannung ruft, gar immer noch gegen neue Raketen ist, „offenbart eine Geisteshaltung, die derjenigen entgegenkommt, aus der das Feuerkommando stammt.“ Wie dezent hat er das formuliert, nicht? Jetzt gilt es, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Verstreicht sie ungenutzt, dann befürchtet Franz Oexle schon am 5. September das Schlimmste: „die 2692 … werden dann so rasch vergessen sein, wie die vielen tausend tote Ungarn 1956, die erschossenen Arbeiter in Polen, oder die von Panzern und Hubschraubern der Roten Armee zermalmten Bergdörfer in Afghanistan.“ Der von deutschen Behörden in den Tod getriebene türkische Asylant, die von der israelischen Armee niedergewalzten libanesischen Dörfer, die massakrierten Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers, die gefolterten Schwarzen Südafrikas, die unter dem Militärregime verschwundenen Argentinier, die geknebelten Staaten Mittelamerikas. Alles für die Katz‘.

„Nun sind eifrige politische Sterndeuter seit Tagen dabei, die Motive des Anschlags zu ergründen.“ Seit Tagen, jawohl. Immer alles zerreden. Diese Ostagenten, „Dauerprotestierer zusammen mit jenen, die ihnen geistig den Takt schlagen.“ Wo man es doch „mit perfektem Mord ohne greifbaren Zeugen zu tun“ hat. Vielleicht hat da jemand ganz schönes Schwein gehabt? „So wird vielleicht immer ein Geheimnis bleiben, weshalb der elektronisch mit modernsten Geräten ausgestatte Jumbo von der üblichen Flugroute abwich und über sowjetisches Gebiet geraten ist.“ „Elektronisch mit modernsten Geräten“ oder mit modernsten elektronischen Geräten. Na, wie dem auch sei, ich bin so frei, Franz, mir vorzustellen – nur im Verborgensten meiner verdorbenen Phantasie selbstverständlich -, daß da einige Leute alles dransetzen, damit das Geheimnis mit Sicherheit eines bleibt.

Franz wird grundsätzlich. „Man muß sich in der nichtkommunistischen Welt doch auch einmal die Frage stellen, ob nicht gerade die dauernde Berieselung der sowjetischen Bevölkerung durch die herrschende Doktrin vom kapitalistischen Klassenfeind ursächlich die Entscheidung zum Feuerkommando gegen 269 unschuldige Menschen ermöglicht hat.“ Ich auch. Man muß sich in der nichtkommunistischen Welt doch einmal die Frage stellen, warum unsere Presse diesen Flugzeugabschuß so hysterisch gleichgeschaltet kommentiert. Kann sich wirklich niemand vorstellen, dass an dem Ding gedreht worden ist? Bei der Zwischenlandung in Alaska kam eine neue Besatzung an Bord? Nicht weit von der Abschußstelle hielt sich ein amerikanisches Spionageflugzeug auf? Ein Jumbo, der normalerweise nicht mehr als 300 Meter von seiner Route abweicht, soll sich bei klarem Wetter auf einmal um siebenhundert Kilometer verflogen haben? Das stinkt doch von hier bis nach Anchorage!

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Die letzte Abrüstungsrunde stand in Genf just vor der Tür, die neuen Raketen müssen unbedingt her, der Friedensbewegung soll das Maul gestopft werden, die Arbeitslosenzahlen will man endlich einmal aus den Gazetten verschwinden sehen. Und da soll keiner auf die Idee gekommen sein, die elektronische Steuerung mit ein paar falschen Zahlen zu füttern, damit die Maschine ordentlich über sowjetisches Hoheitsgebiet zu fliegen kommt? Wo man doch weiß, wie die Brüder im Osten auf so etwas reagieren. Daß das absolutes militärisches Sperrgebiet ist, in dem gerade Manöver stattfinden. Wo man auch wußte, daß sich südkoreanische Piloten schon mehrfach über Sibirien „verflogen“ hatten. Wie blöd muß man eigentlich sein, um sich diese Frage nicht zu stellen? Die Jungs von der CIA haben doch schon ganz andere Dinge hingekriegt als so eine Kleinigkeit!

Franz Oexle sieht dann auch die sowjetische Reaktion glasklar voraus: „ein Kurs auf mehr Menschlichkeit ist nich wahrscheinlich. Er könnte das System gefährden, das im übrigen auf seine honorierten und auch freiwilligen Helfer im Westen große Hoffnung setzt.“ Nun denn, Franz. Ich werde die 32 Rubel und 14 Kopeken, die demnächst via Ostberlin auf meinem Konto eintreffen, auf dem Suserfest versaufen. Die Konstanzer Geschäftsleut‘ sind in dieser Beziehung bestimmt – wie Krupps und Thyssens – nicht so pingelig.

Sunny                                                                                                                                               Oktober 1983

 

Anmerkungen:

1 Nachdem Ende 1982 Verhandlungen in Genf gescheitert waren, begann die NATO, ihren sogenannten Doppelbeschluss umzusetzen und in Westeuropa neue Atomraketen und Marschflugkörper zu stationieren. Dabei hatten in vielen Ländern Hunderttausende gegen diese Entscheidung. Dennoch stimmte der Bundestag im November 1983 für die atomare Aufrüstung.

2 Am 1. September 1983 hatte ein sowjetischer Abfangjäger ein Passagierflugzeug  der Korean Air Lines abgeschossen. Der Jumbo-Jet war aus immer noch unerklärten Gründen vom Kurs abgekommen; alle 269 Personen an Bord starben.