Eine Briefmarke für Winfried ( 17)

aus: Nebelhorn Nr. 39, Juli 1984, von Jochen Kelter

Franz Oexle, Verfasser grundlegender Bücher (‚Die Inseln im See‘) und nach wie vor, jawohl, Chefredakteur des „Südkurier“ in Konstanz, ist kein Wirtschaftsfachmann. Eher so eine Art Generalist, wie sie neuerdings überhaupt in Mode kommen. Zwischen einem Mittagstisch beim Mainau-Grafen und einem Arbeitsessen beim Bürgermeister der Reichenau ringt er den Streiks bei Druck und Metall1, wie es so seine Art ist, letzte Fragen und Einsichten ab. „Gewiss gab es hierzulande auch Ungerechtigkeiten. Wo gibt es sie nicht?“ Nicht? Ein bißchen in den Reden des Heiligen Vaters geblättert, und schon weiß man doch, wo’s in der Volkswirtschaft langgeht.

Aber auch in Zeitkritik hat der Franz was drauf. „Einige Menschen wurden zu schnell reich“ – immer schön langsam reich werden, Herrschaften! – „andere – und nicht immer die Faulsten – kamen nur mühsam zum verdienten Lohn ihres Sich-Abrackerns.“ Sagt dem eigentlich nie mal jemand was? Oder ist seit der Eingemeindung Bonns nach Oggersheim2 in der Sprache eh‘ alles wurscht?

Auf solchen, von menschlicher Weisheit triefendem Hintergrund kann man sich mutig dem Beelzebub in den Weg stellen. „Warum hindern Gewerkschaftsmanager viele deutsche Zeitungen am Erscheinen, geht es doch Ferlemann3 und Dr. Hensche nach erklärter Absicht um die Schaffung von zusätzlichen Stellen?“ Was ich Sie immer schon mal fragen wollte, Dr. Hensche. Wie kann man sich als richtiger Akademiker bloß in den Dienst der Gewerkschaft stellen? Und dann auch noch streiken? Wo wir das doch, wie Sie als Akademiker wissen sollten, gar nicht schätzen. Die Anzeigenkunden könnten zu Schaden kommen, ich muß Ihnen das doch wirklich nicht erklären, Herr Dr. Hensche. „Die Regeln des Einmaleins sind hier doch nicht mehr Bestandteil der Logik.“ Ich kann nur hoffen, Franz, das badische Schulwesen wird sich von dem Schlag noch mal erholen.

Nachzulesen im „Südkurier“ vom 26. Mai. Das „Südkurier“-Archiv hält ihn vorrätig. Steht auch ein lesenswerter Artikel drin mit dem Titel: „Ohne Holz wäre der Waldbauer am Ende“. Der „Südkurier“ nicht.

Der hat geballten Sachverstand in seinen Reihen. Winfried Müller, breiteren Leserkreisen unterdessen als Wirtschaftsfachmann und Briefmarkensammler (Spezialgebiet: Bundesrepublik nach 1984) bekannt, fordert am 13. Juni für den Fall, daß die Bundesanstalt für Arbeit gerichtlich verpflichtet werden sollte, durch den Streik mittelbar arbeitslos Gewordenen Unterstützung zu zahlen, daß „die Allgemeinheit auch darüber entscheiden müßte, ob es zu solchen Arbeitskämpfen kommen darf.“ Aber das meint er natürlich nicht so! Winfried Müller ist ja doch gegen Plebiszite. Er ist einfach dafür, daß das Gleichgewicht von vier zu eins (Regierung plus Arbeitgeber plus Bundesanstalt für Arbeit plus Medien auf der einen, Gewerkschaften auf der anderen Seite) im Arbeitskampf erhalten bleibt.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Die Regeln des Einmischens, wie gesagt. Und geballter philatelistischer Sachverstand. Winfried Müller am 6. Juni zum Aussperrungsverbot4 der hessischen Verfassung: „Ein Erinnerungsstück an den Wiederbeginn des demokratischen Lebens in Deutschland nach Diktatur und Krieg.“ Und das haben wir doch wohl hinter uns, was? Das demokratische Leben, meine ich.

Der verkappte Sozialist Biedenkopf5 als Schlichter in der Druckindustrie? Winfried Müller hat am 23. Juni gewußt, daß das nicht gutgehen konnte. Er „hat sich als Schlichter nicht gerade geschickt verhalten, wenn es ihm vor allem darum gegangen ist, eine Einigung herbeizuführen…“ Sollte doch wissen, wer ihm seinen Brotkorb hinhängt, wie?

Mir kommt eine Idee. In Bonn wird doch demnächst ein Job frei. Wer kommt da eigentlich noch an Winfried Müller vorbei? Die Wirtschaftsredaktion könnte der Oexle doch mit links und ein paar Enzykliken. Den Adelstitel bekäme man vielleicht günstig dazu. Und wenn er mal mit Schwarz-Schilling redet, könnte sich Winfried Müller so ums Jahr 1988 eine Lebenstraum erfüllen: eine Zehn-Pfennig-Winfried-Müller-Sondermarke mit zwei Pfennig Zuschlag „pro senectute“ zur Entlastung der Rentenversicherung.

Sunny                                                                                                                                        Juli 1984

 

Anmerkungen:

1 1984 kam es in der Metall- und der Druckindustrie zu erbitterten Arbeitskämpfen um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Von April bis Juni streikten die Mitglieder der IG Druck und Papier dreizehn Wochen lang; im Mai begannen die Beschäftigten in den IG-Metall-Bezirken Nordbaden/Nordwürttemberg ebenfalls mit mehrwöchigen Arbeitsniederlegungen; die Unternehmen reagierten mit Aussperrungen. Beide Arbeitskämpfe waren erfolgreich.

2 Oggesheim bei Ludwigsburg: Wohnort des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU).

3 Erwin Ferlemann war ab 1983 Vorsitzender der IG Druck und Papier und danach (ab 1989) Vorsitzender der Nachfolgeorganisation IG Medien; Detlef Hensche war Ferlemanns Stellvertreter und von 1992 bis 2001 Vorsitzender der IG Medien.

4  Die hessische Landesverfassung erlaubte das Unternehmer-Kampfmittel Aussperrung nicht.

5 Kurt Biedenkopf (CDU) wurde von beiden Tarifparteien – der IG Druck und Papier und dem Bundesverband Druck – als Schlichter benannt, scheiterte mit seinem Vorschlag aber am Widerstand der Unternehmer.