Eiterbeulen und dunkle Wolkenwände (12)
aus: Nebelhorn, Extra-Ausgabe, Januar 1984, von Jochen Kelter
Franz Oexle, reaktiver Chefartikler des südwestlichsten Demokratie-Anzeigers, verfügt über eine empfindliche Nase und eine wetterfühlige Schreibe. Eine „Eiterbeule“ hat er am 30. November vergangenen Jahres gesichtet, am 1. Dezember „Gerüchlein“ gerochen, „unfeine politische“. Gewagt, gewagt, dieses zarte sprachliche Petting zweier sich völlig wesensfremder Adjektive. „Die Affäre um den Bundeswirtschaftsminister schleppt sich in einer brisant-nervösen Atmosphäre dahin“, weiß er am 5. Dezember zu berichten. Mein Deutschlehrer hat immer gesagt: Große Stilisten können sich mit der Sprache fast alles leisten. Als er ‚fast‘ sagte hat er nicht mit Franz Oexle gerechnet. Hätte er nicht unterdessen das Zeitliche und auch alle anderen Stilfiguren gesegnet, der gute Mann, ich hätte ihn ein paar Tage später gern konsultiert: „Wie eine dunkle Wolkenwand rückt die Affäre Lambsdorff weiter auf Bonn zu.“ Ist sie da nicht beheimatet, die Affäre, meine ich, und folglich die Wolkenwand und kann so gar nicht mehr anrücken? Oder wie funktioniert das mit den Bildern in der Sprache?
„Schweren Schaden“ hat sie „der Demokratie“ „zugefügt“, „die Affäre“. Journalismus als Geschäft verhinderter Saubermänner, die ständig jammern, daß das, was nicht sein darf, andauernd ist. Politik als keimfreier Laden für Hygienemittel und Duftsprays. Während im Hinterzimmer der Besitzer die Ladenmädchen bumst. Wasch mich, aber mach mich nicht naß! „Politik ist in der Auffassung vieler Menschen zum schmutzigen Geschäft geworden.“ Geworden, Franz! Du hälst Deine Leser für blöder als sie sind. Laß ihn sausen, den Strohhalm. Laß einfach mal los.
Stattdessen sowas: Der „Flick-Konzern war gar nicht kleinlich; er warf Geschenke geradezu im Gießkannensystem aus.“ Da fahr doch der Stilteufel drein! Da haben die sich bei einer Handvoll Leuten mit ein paar dicken Bündeln großer Banknoten erkenntlich gezeigt, und der Franz sieht nur Gießkanne. Hast Du’s so dicke, oder hat Dich der Flick mit einem „Südkurier“-Abonnement geschmiert? „Haben sie sich nie mit Karl Marx beschäftigt, mit den Skandalen der Weimarer Republik…?“ Nun ich weiß doch endlich, wo der Franz Oexle im Herbst abgeblieben war. Hat daheim im Keller Marx gelesen. Glaubst Du denn allen Ernstes, das nützt? Die lesen doch auch im Gebetbuch und laufen am Sonntag in die Kirche.
Und weiter geht Oexles Standpauke: „Glaubten sie eigentlich in den Entscheidungsträgern der Bundesrepublik die bakschischverwöhnten Obristen mancher Länder unter heißer Sonne wiederzuerkennen?“ Kleiner Rassist, gell? Wenn Du mich fragst, ich glaube, die Flickschen Geldbriefträger nahmen schlicht an, sie hätten es mit ein paar Herren zu tun, die sich gern einen neuen Silberknauf an ihren Spazierstock leisten, eine Mätresse „unter heißer Sonne“ oder – weiß ich, wie pervers diese Herren sind? – einen Alterssitz im bayrischen Waldsterben.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Ausgerechnet an Marktgraf Otto, dem im Kasinoton näselnden Fossil der freien Marktwirtschaft, richtet sich der Franz auf. „Mit Entschiedenheit fast schneidig“ trete der Mann auf. Das kann einen badischen Seeanrainer schon neidisch machen, wie? „Einige Leute können sich am Stil des Grafen Lambsdorff ein Beispiel nehmen.“ Aber Franz! So viel Zaster haben nun wirklich selbst Flicks nicht.
„Hier wurde der Staat geschmiert“, konstatiert Franz Oexle bereits am 30.11. „fast schneidig“. Und warnt fast im gleichen Atemzug vor einer „Vorverurteilung“ im Stil der „Hamburger Polit-Magazine“ (igittigitt), der „Moralwächter der Nation“. Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln. Oder schon wieder neidisch? „Es gibt keine Zaubertricks, um den gewachsenen, auch zielstrebig geschnürten Knäuel dieser Affäre aufzulösen.“ Die, Franz, bräuchte es am wenigsten, und bange machen gilt nicht! Es würde ja langen, nicht wahr, den zielstrebig gewachsenen Knäuel zielstrebig aufzulösen. Ich fürchte, Ihr werdet so lange publizistisches Störfeuer schießen, bis dem „Knäuel“ nur noch mit „Zaubertricks“ beizukommen sein wird.
„Direkten Nutzen aus dieser Entwicklung sieht nun aber ausschließlich jenes größer gewordene Lager, das von der Demokratie und ihren Spielregeln schon gar nichts hält.“ Besonders die „Spielregeln“, Franz, wollen uns gar nicht gefallen. Unsere Konten nämlich leiden an Schwindsucht.
Sunny Januar 1984