Es liegt was in der Luft (24)
aus: Nebelhorn Nr. 46, März 1985, von Jochen Kelter
Es liegt was in der Luft am Ende dieses kalten Winters. Ein ganz besonderer Duft. Nicht der von verbrannten Fastnachtswürsten. Eher wie von faulen Eiern. Es riecht nach Kapitulation. Der 8. Mai rückt näher. Der 40. Jahrestag. Und der Franz prophezeit schlechtes Wetter. Beckenbauer? Kenn‘ ich nicht. Nein, Franz. Franz Oexle. Schon am 2. Februar hat er seine Prognose geliefert: „Das Ende des Zweiten Weltkriegs wirft lange Schatten“. Angesichts solcher Großwetterlage hilft’s nix, wenn man einfach ein paar Schnäpse kippt, sich ins „Getöse der närrischen Zeit“ (Franz Oexle, niedergeschrieben im narrenumbrandeten Redaktionsgebäude und veröffentlicht im Südkurier vom 16. Februar) stürzt und Jahrestag Jahrestag sein läßt. Oh nein! Darum legt uns der Franz (der richtige, nicht dieser Installateur) auch schon lange vor der Fastnacht, am 2. Februar und bereits im Titel seines Leitartikels „Nüchternheit“ ans Herz: „nur Nüchternheit hilft“. Also keine Fastnacht dieses Jahr!
Denn: „Höchst seltsame Vorgänge ranken sich schon zu Beginn des Gedenkjahres um das jetzt so hervorgehobene Merkdatum der deutschen Kapitulation.“ Ranken sich? Na, dann ist doch Hoffnung, daß es bis Mai zugewachsen ist, das „jetzt so hervorgehobene Merkdatum“. Warum muß es „jetzt“ auch hervorgehoben werden, nicht? Was gibt’s denn da schon zu begehen und zu feiern? Eine Kapitulation, eine Niederlage? Sowas eignet nich doch im Ernst nicht als Fastnachtsersatz. Eine Befreiung? Befreiung von was? Aber was für „höchst seltsame Vorgänge“ ranken sich denn?
„Da war das Aufbäumen der Vertriebenenorganisation der Schlesier“. „Aufbäumen“ ist gut! Gegen die blödsinnige Feierei des Merkdatums. Schlesien sei deutsch und bleibe deutsch, haben sie zu Beginn des Merkjahres gesagt. Breslau statt Kapitulation.
„Dem folgte die makabere, ja an Irrsinn grenzende Entgleisung eines jungen Artikelschreibers“. Ja, die Jugend. Aber der „Irrsinn“ hatte immerhin Methode. Im Verbandsblatt, nicht wahr? Der junge Artikelschreiber hatte, glauabe ich, vorgeschlagen, wenn Schlesien schon deutsch sei, solle man an diesem Tag in Polen einmarschieren. Oder war es die Sowjetunion? Bei uns hätten sie jedenfalls nix zum Feiern.
Und selbst „im Nachbarland Österreich“ rankten sich die Vorgänge. Verteidigungsminister Frischenschlager, „ein jüngeres Regierunsmitglied“ empfing nach jahrzehntelanger Haft bei den Welschen den SS-Erschießungsoberteilnehmer Walter Reder1 auf deutschöstereichischem Boden, eine „Instinktlosigkeit“, die „kaum zu überbieten ist“, „Instinktlosigkeit“? Ich glaube Franz, Du wirst alt. Instinkt, mein Lieber, Instinkt! „Ein jüngeres Regierunsmitglied“ hat da ein paar Treppenstufen für seine Karriere gelegt.
Überhaupt bist Du, dünkt mich, auf dem falschen Dampfer, Du griesgrämiger Abstinenzler. Wenn ich das schon höre: „In diesem Jahr des Gedenkens an das Fatale ist Nüchternheit geboten – nichts als das.“ Du tust der Jugend unrecht, und die Alten hängen sich doch auch ganz schön rein. Ich hab‘ das Gefühl, die haben eine Bomben-Fete vor. Die Vorbereitungen sind jedenfalls verheißungsvoll. Da lädt man den alten Sandro Pertini2 ein, um am 9. Mai vor dem Europaparlament zu sprechen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Und dann findet die CDU, das ginge nicht, weil Sandro Pertini als Partisan das „Merkdatum“ verschuldet hat, nicht weil er Italiens Präsident ist. Und lädt statt dessen den alten Ronald Reagan als Redner ein, nicht weil der Filmschauspieler war, sondern weil er der amerikanische Präsident ist. Aber ein altes KZ wollten sie auch den nicht besuchen lassen. Weil wir doch diesen Tag feiern: 40 Jahre Restauration und Reaktion, 40 Jahre Atombomben, 40 Jahre Ausplünderung der Menschheit. 40 Jahre das Bestehende!
„An der Schwelle des Gedenkjahres 1985 will sich die Erkenntnis nicht mehr verflüchtigen, daß der von Bismarck geschaffene Einheitsstaat seit nunmehr 40 Jahren der Geschichte angehört.“ Man, Franz, mußt Du einen Rausch gehabt haben.
Sunny März 1985
Anmerkungen:
1 Walter Reeder war während der deutschen Besatzung Norditaliens für mehrere Massaker verantwortlich, darunter das in Marzabotto, bei dem knapp 800 ZivilistInnen erschossen worden waren. Reder wurde 1951 in Italien zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, kam aber 1985 wieder frei und wurde bei seiner Rückkehr vom damaligen österreichischen FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager mit Handschlag begrüßt.
2 Alessandro Pertini war von 1978 bis 1985 italienischer Staatspräsident. Während des Faschismus war der Freund von Antonio Gramsci verhaftet, verbannt und zum Tode verurteilt worden; er wurde von der Resistenza befreit und beteiligte sich danach an vielen Aktionen des Widerstands.