Finstere Wolken, Vaterland – die deutsche Provinzpresse greift ein

Der Leitartikel, sagt Brockhaus, bildete in der frühliberalen Epoche des Journalismus den „publizistischen Kern der Zeitung“; heute noch behandle er „tagesaktuelle oder allgemeine Probleme des öffentlichen Lebens mit meinungsbildender Absicht“. Der Leitartikel steht für den Gehalt einer Zeitung, für ihr Niveau, für ihre politische Ausrichtung.

Jochen Kelter hat über drei Jahre hinweg Monat für Monat die Leitartikel „seiner“ regionalen Zeitung gelesen und sie in aufklärerischer Absicht gewendet: Die betulich gesetzten Sprechblasen platzen, der oft versteckte politische Kern kommt zum Vorschein, der Nebel verfliegt.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.

Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …

Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.

1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags. Am 7. Januar 2018 geht’s los!

 

Seine Glossen zu den Meisterkommentaren in einer großen süddeutschen Tageszeitung sind dabei mehr als nur scharfsinnige und sprachlich brilliante Gegenkommentare: Sie bieten außerdem eine Zusammenfassung dessen, was sich in den letzten Jahren (1982 – 1986) so zugetragen hat. Das Spektrum reicht vom Beginn der „Wende“ bis zum Streit um den Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz, von Lambsdorff bis Kießling, von der Friedensbewegung bis zum Genfer Gipfel, vom Kampf um die 35-Stunden-Woche bis zur abgrundtief-deutschen Frage, ob das am 8. Mai 1945 nun eine Niederlage oder eine Befreiung war…

Die gesammelten Glossen Kelters geben einen nachhaltigen Eindruck davon, wie in dieser Republik mit ihrem wortgewaltigen Kanzler auf den unteren Etagen ebenso sprachmächtig Politik gemacht wurde. Kohl und sein Kabinett hätten es damals alleine nie geschafft…