Im Intercity mit Hitlers Tagebüchern in die Eiszeit (6)

aus: Nebelhorn Nr. 26, Juni 1983, von Jochen Kelter

Franz Oexle, immer noch Chefredakteur beim „Südkurier“, hat mich ganz schön enttäuscht. Bis Pfingsten kein Wort zur Gipfelstürmerei der Konjunktur, keine Zeile aus seiner Feder zum Aufschwung mit zwei Komma drei Millionen Arbeitslosen. Aber da ist ja auch sonst plötzlich so manche Feder ausgetrocknet. Zuerst haben sie ganze Schwalbenschwärme geortet, und nun soll sich’s auf einmal bloß um Fälschungen gehandelt haben.

Dafür wartet Chefredakteur Franz Oexle Ende April mit einem anderen heißen Eisen auf, der Deutschen Bundesbahn, die – man glaubt es kaum – „auf schlimme Weise verschuldet“ sein soll und dazu „nicht erst seit gestern.“ Ja, hat denn das niemand gemerkt? Franz Oexle jedenfalls hatte die Augen offen: „Auch die Güterzüge werden kürzer“. Da hört sich ja wohl alles auf. Provokativ stellt er die Frage: „Im Intercity in die Pleite?“ Franz auf dem Verschiebebahnhof: „Es ist höchste Zeit, die Bundesbahn auf jenen Schienenstrang zu lenken, der noch eine Zukunft hat.“ Herr Schaffner, wo bitte geht’s hier in die Zukunft?

Auch mit dem Wetter stimmt’s nicht mehr. Nur eine Woche nach seinen Bahn-Enthüllungen hat Franz, der Wetterkartenmann, es in den Knochen! Am 1. Mai diagnostiziert er: „Über dem Feld der Ost-West-Beziehungen ist eine Kältefront aufgezogen.“ Und wer ist verantwortlich für dieses Sauwetter? Richtig, die Russen. Legen uns Wetterbomben ins Gebüsch und lassen es sauer regnen. Wie sie das machen? Indem sie uns ausspionieren, „Auskundschaften westlicher neutraler Staaten mit allen Mitteln“, jawohl, „ auch unter dem Risiko des Entdecktwerdens.“ Hat man Worte. Kein Wunder, daß aus dem Wirtschaftshoch nichts werden kann. „Kommt eine neue Eiszeit?“, fragt sich Franz Oexle besorgt.

Nochmal eine Woche später – den Franz plagt nach wie vor das Zipperlein – hat er „gemischte Gefühle“, die Wetterlage schlägt ihm auf den Magen, er mag für nichts mehr garantieren: „ Ob die Gemütslage der Nation am Ende des Sommers oder Herbstes noch die gleiche sein wird, steht in den Sternen.“ Eben dort. Franz ist seinem Kanzler gram. „Die Regierungserklärung des Kanzlers dürfte nicht gerade als großes Dokument in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen.“ Und das ist halt schon ein schwerer Schlag. Statt einer anständigen Roßkur „hatte die Verabreichung von Beruhigungstropfen Vorrang.“ Wo doch so vieles radikal zu korrigieren wäre: „Die öffentlichen Schuldenlast, der kaum mehr im Gleichgewicht zu haltende Staatshaushalt, ein zum Mißbrauch geradezu einladendes … Sozialsystem, die am Ende der ihr auferlegten Belastungsprobe angelangte Wirtschaft“ – halt, Franz, das da am Schluß hast Du nicht so gemeint, darauf wette ich jeden Betrag. Da hat sie Dich kalt von hinten erwischt, die deutsche Sprache, gell?

Helmut Kohl aber hat im Chefzimmer des „Südkurier“ viel Sympathie eingebüßt. Wo der Mann doch alle Voraussetzungen mitbrachte, geradezu prädestiniert schien, und die Leute hingen ja an seinen Lippen. „Geradlinigkeit der Gesinnung, verbunden mit der Schlichtheit des Ausdrucks, überzeugte die Deutschen stärker als Schärfe des Gedankens“. Da ist er wieder, einer jener Sätze, perlfrisch auf der noch druckfeuchten Titelseite, derentwegen ich immer wieder den „Südkurier“ lese.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.

Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …

Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.

1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.

Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Hitler oder Hitchcock?“ titelte Franz Oexle kühn am Dienstag, den 26. April. Alliteration nennt man so was und legt auch sonst Zeugnis ab von gewaltiger Stilkunst. „Ihre vom Grauen geprägte Vergangenheit läßt die Deutschen nicht mehr los.“ Es ist zum Kotzen. Erst „die entsetzlichen Bilder aus der Fernsehserie ‚Holocaust'“1, dann der 50. Jahrestag der Machteroberung und nun auch noch Adolfs Tagebücher.2Und schon wieder schwappt das unerschöpfliche Becken mit Material aus der Hitler-Zeit über.“ Schwapp, schwapp. Wer ist da noch sicher, nicht wahr? Nächstens werden sie noch Franz Oexles Knabengedichte auf den Führer ausgraben. Nicht auszudenken.

Hättest Du mal richtig reingelesen, was der Nazisouvenir-Händler Kujau und seine Spießgesellen in der Chefetage des Bertelsmann-Konzerns postum aus unserem Führer machen wollten – eine Art von heimtückischen Vasallen umstellten tragischen Landesvater – , es wäre Dir leichter ums Herz geworden, Franz. Ein bißchen was hast Du ja gerochen, nicht? „Aufschlußreich“ könne es sein, schreibt unser von bösen Träumen geplagter Starkolumnist, wenn man „dokumentarisch“ erführe, „daß der braune Diktator die germanenselige Falschheit Himmlers geißelte und dem großmäuligen Propagandaminister die Endlosreihe seiner Weibergeschichten verübelte“. Laß an diesen Satz bloß keinen Psychoanalytiker ran, lieber Franz, der könnte Deiner Gemütslage endgültig den Garaus machen. Weibergeschichten, großmäulig, germanenselige Falschheit. Solche starken Verbalinjurien, die ans Eingemachte gehen sollen, stehen für unverdaute Affekte, weißt Du. Früher spuckte man den Verbrechern am Pranger ins Gesicht. Die unzivilisierten Buschneger töteten einen Fetisch. Was wir nicht besitzen können, bringen wir um. Und hinter dem „braune(n) Diktator“ lugt schon die richtig tragisch deutsche Gestalt des verhinderten pater patriae hervor.

Aber dann ging eben einfach alles viel zu schnell und somit vorbei an den Redaktionszimmern des „Südkurier“. Die Sache war schon aufgeflogen, kaum daß man sich richtigauf sie hätte einlassen können. Nur gut doch, daß so ein ‚Scheckbuchjournalismus‘ à la „stern“ in unseren Breiten unbekannt ist. Hier berappt man keine zehn Millionen, um etwas ans Licht zu bringen, da es nichts gibt. Hier wirft man allenfalls ein paar Tausender für das Gegenteil raus. Und als Dreingabe eine Zigarre für einsachtzig.

Sunny                                                                                                                                                         Juni 1983

 

Anmerkungen:

1 Die vierteilige US-amerikanische TV-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ wurde im Januar 1979 in Deutschland ausgestrahlt und von Millionen gesehen; sie löste eine größere Debatte über die NS-Geschichte aus als alle Fernsehsendungen und Gerichtsprozesse vorher.

2 Ende April 1983 veröffentlichte die Zeitschrift „Stern“ auszugsweise die „Hitler-Tagebücher“, die von der Redaktion etwas vorschnell für echt befunden worden waren.