Ins wilde Absurdistan (2)

aus: Nebelhorn Nr. 22, Februar 1983, von Jochen Kelter

Franz Oexle macht weiter, ich auch. Vorher aber hat er sich zum Sechzigsten ein Buch mit Eigenem schenken lassen. Titel: „Wohin führt die Reise?“ (Ich fürchte, lieber Franz, die Frage ist gar nicht rhetorisch gemeint?) Der Verlag, dem er seit über zwanzig Jahren dient, wird ihm den Geburtstagswunsch gern erfüllt haben. Derweil der Jubilar „weit weg von Konstanz“ weilte, wie der „Südkurier“ am 10.12.82 zu berichten weiß, „bei guten Freunden in Südost-Asien“. Ich bin fast rot geworden, als ich’s gelesen habe. Er wird doch wohl nicht, Tripper-Clipper und so?

Aber zurück zu dem Büchlein. Da liegt es nun, während sein Verfasser im Süden oder im Osten von Asien den wohlverdienten Reisschnaps kippt, ist fast hundertzwanzig Seiten dünn und sind viele Fotos drin. Auf denen sind Leute zu sehen, die unsereiner aus dem Fernsehen kennt, Helmut Schmidt, Hans Dietrich („Segelohr“) Genscher, Ronald Reagan, Willy Brandt, Prinz Charles und Lady Di und noch viele andere. Damit der Leser gleich weiß, um wen und was es in dem betreffenden Kapitel (in solche nämlich ist das Buch eingeteilt) und Artikel geht. Der bekannte Leserservice des „Südkurier“. Sehr hilfreich.

Vorne geht es gleich los mit Zitaten. Erst was vom ollen Horaz (lateinisch!) und dann von Arthur Schopenhauer. Da wird man schon richtig nachdenklich. Schopenhauer nämlich soll die Journalisten mit dem Sekundenzeiger einer Taschenuhr verglichen haben, und der sei halt meist aus unedlerem Metall als die anderen Zeiger. Der Philosoph wird wohl so seine Erfahrungen mit den Journalisten gemacht haben, meint Franz Oexle, „und auch mit den Taschenuhren“. Na klar, mit den Taschenuhren!

Dann kann man da vorne auch studieren, in welche Kapitel der Verfasser das Buch eingeteilt hat, nämlich in sechs. „Draußen in der Welt“ heißt eines, „Notizen aus der Ferne“ ein anderes. Ja, der Franz ist weit herumgekommen, Ihr lieben Leut‘ am See. „Blickrichtung Osten“ heißt ein drittes Kapitel. Schon wieder? Nein, nein, ich kann die Leser, um die ich hier werbe, beruhigen. So ist es nicht gemeint.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.

Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …

Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.

1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.

Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Ein Artikel in „Draußen in der Welt“ beschäftigt sich mit dem Falkland-Krieg (in dem die Briten – stoisch, fast so hart wie Krupp-Stahl, treu wie Gold – diesen Rinderhirten – Gauchos – am anderen Ende der Welt gezeigt haben, was eine antifaschistisch-demokratische Harke ist) und hat am 30. April 1982 im „Südkürier“ gestanden. Da stehen ein paar ganz bemerkenswerte Sätze drin. Zuerst geht es los mit dem Goethe-Jahr, und „nun ertönt in diesen Tagen weltweit ein schrilles Konzert“. Aber ich will den Leser nicht langweilen. Jedenfalls die Tommies sind in Ordnung. Aber wer nun gedacht hat, jetzt sagt er’s endlich, der Oexle, der sieht sich schnell auf den Boden der Zeitungswirklichkeit zurückgeholt. „Es soll hier –  man wird ja so leicht mißverstanden – nicht nach Säbeln und Soldaten gerufen werden.“ Wonach denn aber? Nach Tretminen und Tornistern? Nach Radar und Raketen? Nach blauen Bohnen und Bajonetten? Nach… Man wird halt so leicht mißverstanden.

Und im nächsten Satz ist dann endgültig die Luft raus. „Die Aggressoren unserer Tage lassen sich im allgemeinen von Drohgebärden ja auch nicht beeindrucken.“ Na eben. Es ist der pure Frust. Dem Breschnjew hat der Oexle immer und immer wieder die Meinung gesagt, und glaubt jemand, der hätte sich auch nur einen Furz drum geschert? Nun ja, jetzt ist er tot, nicht? Und Franz Oexle feiert in Asien seinen Sechzigsten. Kopf hoch! Steter Tropfen höhlt den Stein. Und ansonsten: Weiterhin Prost!

Selbstverständlich hat Franz Oexle über dem Jubelereignis nicht seine Pflichten vernachlässigt und aus Asien seine „politische Neujahrsbetrachtung“ rübergetelext. Am 31.12.’82 hat sie ganz vorne auf der ersten Seite des „Südkurier“ geprangt und klingt uns noch in allen Ohren. Nein? Wirklich nicht? „1983: Mit Entschlossenheit wieder Tritt fassen“? Tritt fassen, in gleichem Tritt und Schritt, die Reihen … Na also! In dem Artikel geht’s gar düster zu. Von „schmutzigen Kriegen“ (nicht von den sauberen wie auf den Falkland-Inseln) ist die Rede und von einer „nahezu undurchdringliche(n) Wolke der Ungewißheit“. Und davon, daß wir auf Schatzsuche gehen müssen nach „Orientierungskarten, auf denen die Fluchtwege aus der Wirtschaftskrise beschrieben sind.“ Na ja, Urlaub ist ja eine Verjüngungskur, nicht?

Sunny                                                                                                                                                     Februar 1983