Olympischer Dreisprung (18)

aus: Nebelhorn Nr. 40, September 1984, von Jochen Kelter

Der heimische „Südkurier“ liegt unter den deutschen Zeitungen keineswegs abgeschlagen auf den hintersten Plätzen. Wer’s trotzdem nicht glaubt, werfe einen Blick in die „Welt am Sonntag“. Das steht unter dem Datum vom 5. August zu lesen:

„Keine Tugend der freien Welt, die auf den Wettkampfstätten von Los Angeles nicht Gestalt angenommen hätte: Patriotismus und Individualismus, Fairneß und Spontaneität, Einfallsreichtum, Risikobereitschaft und Wohlstand, Freude am Spiel und Spaß an der Leistung.“

Steht da. Ehrlich. „Wohlstand“ „auf den Wettkampfstätten“. Komisch, als bei der Siegerehrung die Schecks überreicht wurden, muß ich vor dem Fernseher eingenickt sein. Aber der Verfasser des Artikels, ein Herr Senapis (das ist griechisch und bedeutet: Senf) muß überhaupt auf einem anderen Kanal gewesen sein. Auf meinem Kanal gab’s Chauvinismus, Anstiftung zum Herdentrieb, Hysterie, geplante sowie spontane Manipulation, Verbissenheit sowie Völkertrennung.

Die haben die Chupze besessen, sich aufs gleiche Treppchen mit Zeitungen wie „Le Monde“ zu stellen. So is‘ es, wenn Athlet und Kampfrichter aus demselben Topf bezahlt werden.

Freut man sich doch, wenn man mal kein Weltblatt in die Hand kriegt. Sondern den „Südkurier“. Besonders, wenn Chefredakteur Franz Oexle im Sommerloch zur Sportredaktion wechselt.

Der sieht die Dinge differenziert. Sozusagen im journalistischen Dreisprung. Den führt er uns am 28. Juli, gleich zu Beginn der Spiele vor. Interessante Disziplin. Könnte bis Seoul olympisch werden, vorausgesetzt, bis dahin ist durchgedrungen, daß Journalismus eine Angelegenheit der Muskeln ist. Sitzmuskeln, Schreibhandmuskeln. Und psychischer Unerschrockenheit.

Also. Erstens: Die Olympischen Spiele sind gut, weil doch Ausfluß einer „packende(n) Idee“, die „ein edles Ziel verfolgt“ (hier sind wir schon mitten im Marathonlauf) und „in neun Jahrzehnten“ (keine gute Zwischenzeit) „nichts von ihrer Größe und Faszination verloren“ hat. Es kommt noch besser: „Sie überdauerte zwei Weltkriege“ (die Wassergräben!). Vor allem: „Millionen Menschen in der Alten Welt werden, soweit sie nicht schlafen, am Bildschirm …“ Hat sich was mit packend.

Und dann: „die fernbedienten ‚Schlachtenbummler‘ in der Bundesrepublik …, die an Nationalstolz gewiß nicht kranken“. Gewiß nicht, „es sei denn, sportliche Mißerfolge machten ihn unmöglich.“ Franz hat sich die Fussballeuropameisterschaft am Fernsehen geguckt. Der Frust! Das Scheißspiel!

Zweitens: „Die Spiele haben Schaden genommen. Das ist keine Frage mehr.“ Sie haben „seit Jahren, präziser, sogar seit Jahrzehnten Federn lassen müssen.“ Olympische Spiele ohne Federn? Nicht auszudenken! Was, um Gottes Willen ist denn passiert? „In den zwanziger Jahren durften die Deutschen nicht teilnehmen“. Die Deutschen durften nicht? Ach so! Dann noch die „Mogelei“, „Grauzonen der Mogelei“. Deshalb auf dem Farbfernseher nicht zu sehen. Aber daß ‚Mensch  ärgere Dich nicht‘ olympische Disziplin ist, wußte ich nicht. Ein urdeutsches Spiel! Und die unseren haben keine Goldene gekriegt, weil die Rumänen falsch gewürfelt haben, was? Wo die sowieso keiner eingeladen hatte.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Vergessen wir’s, Franz! Was soll’s, „wo mit Raffinement gearbeitet wird“, könnte ein „Pessimist“ geneigt sein, „über Los Angeles zur Tagesordnung überzugehen“.

Drittens: „Ein solches Verhalten wäre indessen verkehrt. Das Geschenk des französischen Barons Coubertin an die Menschheit hat es nicht verdient.“ Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, wie? „Die Olympischen Spiele waren von Anfang an eine Herausforderung,… nach dem Höchsten zu greifen“. Doch nicht am Ende sich selbst an den Kopf?

Zum Schluß wird der Franz richtiggehend philosophisch. „Viele Träume sind ausgeträumt. Andere werden wohl nie in Erfüllung gehen.“ Du meinst den, daß nach diesem Leitartikel Adidas, Puma, Coca-Cola und Texas Instruments anfangen, im „Südkurier“ zu inserieren?

Sunny                                                                                                                                  September 1984