Sommertheater oder Warten auf Godot (8)

aus: Nebelhorn Nr. 28, September 1983, von Jochen Kelter

Das ist mal ein Sommer gewesen, nicht wahr? Der hat es in sich gehabt. Und ich spreche gar nicht nur allein vom Wetter. Franz Josef Strauß ist heimlich in die SPD eingetreten, François Mitterand in die Fußstapfen seiner Amtsvorgänger, und die Amerikaner haben – weniger heimlich –  mit ein paar neuen Kriegsvorbereitungen begonnen. Offene Worte sind jede Menge gefallen. Gerd Appenzeller hat im „Südkurier“ gemeint, Mittelamerika dürfe kein zweites Vietnam werden, ‚Frauen für den Frieden‘ haben aufgerufen, Bundeskanzler Kohl bei der Durchsetzung deutscher Friedensinteressen im Weißen Haus zu unterstützen, und die Amerikaner haben wiederum verlauten lassen, sie dächten gar nicht daran, Truppen in den Tschad-Krieg zu schicken, schließlich sei das eine französische Kolonie gewesen …

Die Strandbäder waren rappelvoll, es war, als wollten’s die Leute ein letztes Mal genießen. Das schöne Lied „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“ lief überall, die Eisverkäufer und Biergärtenwirte waren dem Ansturm kaum gewachsen. Und schließlich bin ich in diesem Sommer erhört worden. Doch. Von Franz Oexle.

Nach langem Bitten und vielen Mahnungen, uns unseren Aufschwung zu erklären, hat er klammheimlich, still und leise und mitten im schönsten Sommerloch am 16. Juli einen Artikel auf die erste Seite einrücken lassen, der trägt den schönen Titel „Aufschwung mit Verzögerung“. Na, wenn das kein klärendes Wort ist. Der Franz hat den Kopf aus dem Fenster gestreckt und diagnostiziert: „Der Sommer überzieht die Bundesrepublik mit Hitze“. Franz als Wetterfrosch. „… warten bis der Wirtschaftshimmel wolkenlos sein wird, ist kein gutes Rezept“. Wirklich nicht. „Da und dort im Land wird mehr gebaut als noch vor einem Jahr.“ Der Rhein-Main-Donau-Kanal und die Abschußrampen für die Pershings, oder? „Die Blechlawinen auf den Ferienstraßen“ hat Franz Oexle ebenfalls geortet und schließt messerscharf: „…die Deutschen kaufen neue Autos wie selten zuvor.“ Und was, wenn die bloß frisch gewaschen waren?

Aber es hat ja doch keinen Zweck, sich was in die Tasche zu lügen, nicht? Die „Währung“ befindet sich „auf Talfahrt“, „Kredite sind nach wie vor teuer“ (Franz hat bei der Sparkasse nachgefragt), „die Arbeitslosigkeit pendelt sich, wie es den Anschein hat (es hat ihn, sei unbesorgt), auf einen gefährlich hohen Stand ein.“ Aha, so sieht das mit einmal nach zehnmonatiger christdemokratischer Kanzlerschaft aus. Und was nun?

Franz Oexle macht – nach dem Motto: Ernst ist das Leben, heiter die Kunst – Anleihen beim Theater. ‚Warten auf Godot‘ – der vielsagende Titel des Beckett-Stückes drängt sich einem wieder auf. In die Realität unserer Tage übertragen heißt das eben „Warten auf den Aufschwung“. Darf ich also – wenn ich besagtes Stück nicht ganz falsch memoriere – resümieren: Warten, bis es schwarz schneit und die Hoffnung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Ganz schön dreist, nicht? Für Leute, die als einzige Gegenleistung dafür, daß sie ans Ruder wollten, um uns in den kalten Krieg (vielleicht ja auch bald einmal heißen) Krieg und den Überwachungsstaat zu schippern, mit Wirtschaftsaufschwung lockten. Ganze Spalten von Speckseiten haben sie auf uns Mäuse abgefeuert. Nun sitzen sie fest im Sattel und nennen eine Fata Morgana auch wieder eine Fata Morgana.

Die einen resignieren, andere verlieren die Geduld und begehren auf, wieder andere weichen aus. Man begegnet solchen Verhaltensweisen immer wieder.“ Wie auf der Bühne, Franz, wie auf der Bühne. Aber da hat er sich schon selber auf die Bretter geschwungen. „Attentismus“ (ein Fremdwor! Bedeutet: saublöde Warterei) ist schlecht, die Parole heißt „Ärmelaufkrempeln“. Du hast wohl vergessen, in welchem Stück wir sind, Junge.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Vize Appenzeller sekundiert am 23. Juli. Mit mäßigem Ergebnis. „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt…“ Nichts als Radio, Theater und Flausen im Kopf in diesem Sommer. „Den Text hat nicht etwa die Werbeabteilung der CDU initiiert“. Ich werd‘ verrückt, nein? Gerd, schon mal bis zum Ende zuhören und nicht immer gleich den Knopf am Autoradio weiterdrehen. „Ist sie da?“, die „wirtschaftliche Wende“, fragt Appenzeller. Und bei ihm fallen die Antworten stets unverblümt und knallhart aus. „Die Frage ist glatt zu verneinen. Verbessert hat sich allenfalls die Atmosphäre, nicht die Lage. Immerhin kann man auch drin schon einen Fortschritt sehen…“ Kann man, nicht? Muß man aber bei Gott nicht, oder?

Ich hab‘ das dumme Gefühl, ein paar Jungs geben im Sommertheater ‚Warten auf Godot‘ und warten schon sehnlichst darauf, ihr altes Volksstück ‚Knüppel aus dem Sack‘ inszenieren zu dürfen. Wenn die Kollegen vom Grenzschutz erst mal wieder in die Hände spucken, die Amis endlich ihre Raketen einfahren1 und es ordentlich Zoff gibt – dafür kann man ja sorgen, nicht wahr, ein paar blutige Köpfe, ein paar Verletzte, vielleicht sogar – Gott bewahre – ein Toter – wer spricht dann noch von Sozialleistungsabbau und wirtschaftlichem Aufschwung.

Sunny                                                                                                                                               September 1983

 

Anmerkung:

1 Nachdem Ende 1982 Verhandlungen in Genf gescheitert waren, begann die NATO, ihren sogenannten Doppelbeschluss umzusetzen und in Westeuropa neue Atomraketen und Marschflugkörper zu stationieren. Dabei hatten in vielen Ländern Hunderttausende gegen diese Entscheidung demonstriert (Bonner Hofgarten Oktober 1981: 350.000; Amsterdam November 1981: 400.000; Bonn Juni 1982: 500.000; New York Juni 1982: eine Million, usw.). Anfang September 1983 kam es zu Sitzblockaden in Mutlangen, zur Menschenkette Stuttgart-Neu-Ulm, zu Aktionstagen („Heißer Herbst“) mit 1,3 Millionen Beteiligten. Dennoch stimmte der Bundestag im November 1983 für die atomare Aufrüstung.