Vom Stochern im See (1)
aus: Nebelhorn Nr. 21, Dezember 1982/Januar 1983, von Jochen Kelter
Chefredakteur Franz Oexle kommentiert aus dem Nebel
Wer, von Norden oder Süden kommend, des Weichbilds der Stadt Konstanz ansichtig wird, weiß sofort, daß hier ein mildgestimmter Schöpfer gekonnt am Werk gewesen sein muß. Die Sache hat indessen, wie anders nicht zu erwarten, einen Haken. Von Oktober bis März hüllt mitunter wochenlanger Nebel Stadt und See in ein barmherziges Vergessen, welcher Zustand bei allzulanger Dauer eine gewisse Apathie, Schwermut und Egozentrik bei den hiesigen Einwohnern zur Folge hat. In der Tat wird einem, wo man die Hand kaum vor Augen sieht, allmählich gleichgültig, ob Amerika weiter entfernt ist oder Singen am Hohentwiel.
Diesem Zustand vorzubeugen, müht sich dankenswerterweise seit Jahrzehnten der „Südkurier“. Das Rezept der örtlichen Gazette lautet folgendermaßen: man erkläre den guten Leuten, daß jenseits der Landkreisgrenzen auch noch Menschen wohnen. Zu diesem Bemühn wähle man, da die Leser, sozusagen umnebelt, die Hellsten nicht sind, erbauliche, aber einfache Worte (was gleichzeitig die Eintrittsvoraussetzungen der Redakteure ungeheuer vereinfacht).
Immer wenn draußen, dort, wo um diese Zeit kein Nebel herrscht, Groß- und Staatsaktionen über die Bühne gehen, greift Chefredakteur Franz Oexle persönlich zur Feder und erläutert, wo’s langgeht. Am 12. November floß ihm aus selbiger folgendes: „Der Tod hat einen Schlußstrich gezogen. Die Ära Breschnew ist zu Ende.“ Die schlichte Schönheit dieser beiden Sätze kann einen ganz schön nachdenklich stimmen. Dem Westen wird angesichts dieses Schnippchens, das ein Schlußstrich einer Ära geschlagen hat, „eine offene Haltung“, „Wachsamkeit“ und „Tapferkeit“ anempfohlen. Halleluja, Tschingderassa und etcetera. Die Franzosen haben dafür eine schöne Redewendung: le n’importe quoi erigé en système. Zu deutsch etwa: ist ja eh wurscht, Hauptsache, es geht runter wie Suppe.
Über Helmut Schmidt weiß Franz Oexle seinen Lesern am 27. Oktober zu berichten, daß er es „fertigbrachte, daß man ihn in anderen Hauptstädten ernstnahm.“ Gell, Franz, und Dich hat man in Rom immer ausgelacht, wenn Du Dich im Lodenmantel am Trevibrunnen gezeigt hast!
Unsere Zukunft malt er uns düster. Aber wie er das tut! Die hohe Kunst der Metaphorik feiert sozusagen ihr Spätbarok. Soll einer sagen, komplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge ließen sich nicht ebenso schlicht wie anschaulich darstellen. „Das Wirtschaftsbarometer steht tief. Man muß lange draufblicken, um winzigste Ausschläge nach oben feststellen zu können.“ Ich hätte da immerhin ein Rezept: nicht lockerlassen! Feste draufgucken! Vielleicht ist in der Wirtschaftsredaktion noch ein Platz frei?
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …
Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.
1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.
Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Verständlich, daß ihm Wahlen im kommenden Jahr2 gar nicht schmecken wollen. „Dem Wähler und Bürger sollte endlich bewußt werden, daß es nicht so sehr auf Köpfe und Namen ankommt, sondern nur noch auf einen Weg, der aus der gegenwärtigen Misere herausführt.“ Heraus wohlgemerkt. Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. Doch nicht der Franz. Sonst müßte es ja doch wohl hinaus heißen, nicht wahr? Aber recht hat er allemal. Nicht Köpfe und Namen helfen uns auf den Weg. Die ich kenne, sind jedenfalls eher hinderlich. Doch der „Südkurier“ hat nicht nur seinen Chefredakteur und Vortaster, er hat auch den Korrespondenten Siegfried von Beöczy. Der erklärt den „Südkurier“-Lesern am 30. Oktober nach dem Wahlsieg der spanischen Sozialisten, wer hinter den Pyrenäen-Bergen künfig die Opposition stellt: die Partei des alten Franco-Spezis Manuel Fraga. Um den haben sich, so Beöczy, „verunsicherte Unternehmer und gemäßigt-faschistische Sympatisanten gesammelt.“ Und ich hatte immer gedacht, die beiden hätten nichts miteinander im Sinn. Aber was wohl „gemäßigt-faschistische Sympathisanten“ sind? Na, ich nehme an, Leute grad‘ so wie daheim in Szegedin. Dagegen habe ich, ich gesteh’s, ein wenig Mühe, mir einen gemäßigten Faschismus vorzustellen. Faschismus minus Gaskammern? Hakenkreuze auf Häkeldeckchen? Ich könnt‘ mir denken, der Konstanzer Geschäftswelt täten die Herren Bötschi und Fraga auch ganz gut passen?
Sunny Dezember 1982
Anmerkungen:
1 Als die Glosse erschien, war die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 nicht absehbar und auch von niemandem erwartet worden.
2 Anfang Oktober 1982 stürzte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), weil die FDP die Seite gewechselt hatte und Helmut Kohl (CDU) zum neuen Regierungschef wählte. Die Bundestagswahl am 6. März 1983 ergab eine Mehrheit für CDU/CSU und FDP.