Von Straßengabelungen, von diesem unserem Land, wie es aus Talkesseln steigt (4)

aus: Nebelhorn Nr. 24, April 1983, von Jochen Kelter

Dieser unser1 Winter hat es in sich gehabt. Schnee und Eis wechselten mit Föhn, Regen mit Eis. Dieser Winter war wahrhaft schicksalsschwanger. Die großen Ereignisse jagten sich wie am Himmel die Wolken. Zuerst feierte Franz Oexle seinen sechzigsten Geburtstag „bei guten Freunden“ in Asien, und als er zurückgejettet kam, stand – mit fünfzig Jahren Verspätung – der 30. Januar vor der Tür, ein Tag „zum Nachdenken“. Obgleich es einem schon in den Fingern kribbelte, denn der 6. März2 war nicht mehr weit, ein „Merkdatum in der Geschichte der Bundesrepublik“, wie Franz Oexle im „Südkurier“ vom 5. März wissen ließ. Heißen Dank, wir hätten’s wohl wieder nicht gemerkt.

Jede Parlamentswahl dieser Art führt den Bürger an eine Straßengabelung“. Da steht er dann, und wer da glaubte, Franz Oexle nehme ihn bei der Hand und weise ihm den Weg, der sah sich enttäuscht. An diesem Tag nämlich ist der Bürger für einen bangen Moment der Größte. „An diesem Tag bestimmt er die Richtlinien der Politik“. Da möge man ihn denn nicht stören an seiner Straßengabelung und ihm mit Zaunpfählen winken. Da sind Einfühlung und Fingerspitzengefühl gefordert, Filigranarbeit sozusagen. Da ist man nicht Partei, vielmehr väterliche Stimme am Ohr. So läßt denn Franz Oexle seine Schicksalsmetaphorik auch nur ganz sparsam aufblitzen, nennt kaum einmal Namen, flüstert nur ins Ohr: der eine „Weg“, der „zuletzt genannte“, „ist nicht klar erkennbar“. Weist auch noch darauf hin, daß „Franzosen, Amerikaner, Engländer, aber auch viele andere“ „mit Sorge“ „verfolgen“, wie denn die Antwort des Manns an der Kreuzung auf „das sowjetische Sicherheitsbedürfnis“ und die „unterschwellige antiamerikanische Komponente“ ausfallen werde.

Er ist eben nicht nur ein mächtiger Stilist, unser Franz, einer, der unser Schicksal in den Wolken und an Straßenkreuzungen vorgezeichnet sieht, er ist auch ein ganz ausgebuffter Psychologe. Er kennt seine Pappenheimer an sämtlichen Straßengabelungen zwischen Donaueschingen-Nord und Allensbach-West. Er weiß, daß unsere Aufnahmefähigkeit für Logik, Dinge des Verstands und Sachargumente weit überschätzt, unsere heimliche Sehnsucht nach Glaube, Liebe, Hoffnung meist weit unterschätzt werden. „Die Rezepte für den Ausstieg aus dem wirtschaftlichen Talkessel, so wie sie vor dem Wähler liegen, sind von diesem auf ihre Tauglichkeit und Wirksamkeit nur schwer abzuschätzen. Er muß sich auf Erfahrung, Instinkt und Hoffnung verlassen“.

Deutsche Tugenden, die viel zu lange zu kurz gekommen sind! Und wer ein paar Jahrhunderte mit Oexlegraden und Fürsten, mit Narren und saurem Wein zugebracht hat, der ist nun mal blöd.

Welche Freude dann aber am 7. März in dieser unserer Stadt. Da läßt auch Franz Oexle die Leinen schießen, da hält es ihn länger nicht, da greift er schnell nochmals zur Feder, da platzt es aus ihm heraus: „Dies also war der 6. März, auf den so viele gewartet haben. Er bestätigte die Wende“.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.

Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …

Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.

1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.

Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Nur Fliegen ist schöner. Franz jubiliert: „Die Bundesrepublik rutschte weder nach rechts, noch nach links. Der Wahltag weist auf Maß, Vernunft und Mitte hin.“ Vielleicht sollte man gleich auch die rechtsrheinischen Stadtteile vom Gemeinderat mit Maß und Vernunft in Konstanz-Mitte umtaufen lassen? Wir haben’s ja. Wir haben keine Mitte, wir sind die Mitte, das „juste Milieu“. Wer nicht für uns ist, ist wider uns, wo gehobelt wird, da fallen Späne, damit’s eine runde Sache wird. Die Mitte-Parteien CDU und CSU erklärt unser Himmelflieger zum „Rundumsieger“. Da wird man ja wohl in Zukunft mal hinlangen dürfen, wie?
Franz Oexle jedenfalls, der heimische Holzschneider, der Meister des Sprechblasenspätbarock wird uns in Zukunft – back to the fifties – wohl wieder mehr mit Grobschnitt bedenken als vor dem bangen 6. März, dem „Merkdatum“.

Der Triumph könnte schöner nicht sein, die Feinde liegen darnieder, und nun endlich ist auch ein offenes Wort über den sozialdemokratischen Kandidaten3 am Platz, nun, da der Mann der Gabelung kundgetan hat, er wolle „nicht die Straße beschreiten, die aus der Geborgenheit des Westens hinausführt“: „verschlissen“ ist er, „ein weiteres Mal“, vom Bürger, der „über ein länger tickendes Gedächtnis“ verfügt (das – drei Kerzen hab‘ ich geopfert – wieder mal nicht explodiert ist), in die Kälte geschickt, in die Wüste, einer, den „linke Scharfmacher … verjagten“, der „eine Suppe zum Auslöffeln vorgesetzt bekam“. Jawohl, so einer ist das.

Nach dem Jubel kehrt bei Franz Oexle gleich wieder die Nachdenklichkeit ein, die bleibt bei dem Sohn dieser jauchzenden und gleich darauf schon wieder melancholischen Landschaft selten aus. Den Sozis empfiehlt er nun ernsthaft, „einmal über sich nachzudenken. Man könnte allenfalls noch hinzufügen, daß sich die Partei auch einmal Gedanken machen sollte über Tendenzen ihrer Führung nebst Vordenkern“.

Allenfalls“. Denn das möchte man denn doch seinem ärgsten Feind nicht gönnen, gell, daß die Leute anfangen möchten, sich über die „Führung nebst Vordenkern“ Gedanken zu machen.

Sunny                                                                                                                                                           April 1983

 

Anmerkungen:

1 „Dieses unser Land“ war eine Floskel, die Helmut Kohl (CDU) damals in so gut wie jede Rede einfließen ließ.

2 Am 6. März 1983 wurde ein neuer Bundestag gewählt; das Resultat ergab eine Mehrheit für CDU/CSU und FDP; die SPD erzielte 38,2 Prozent, die Grünen zogen mit 5,6 Prozent erstmals in den Bundestag ein.

3 Spitzenkandidat der SPD war seinerzeit Hans-Jochen Vogel.