Von Wolken, Zimmerleuten und einer braunen Nacht (3)
aus: Nebelhorn Nr. 23, Februar 1983, von Jochen Kelter
Ich habe natürlich gehofft und, je näher das Datum rückte, fast sehnsüchtig den Tag erwartet. Und ich bin nicht enttäuscht worden: Pünktlich zum 30. Januar schoß Franz Oexles Feder aus dem Zeitungshimmel auf die Titelseite des „Südkurier“ nieder.
Da hat sie mächtig gekleckst und uns „Ein(en) Tag zum Nachdenken“ – so titelt Franz Oexle seinen Besinnungsaufsatz – beschert. Wie Buß- und Bettag oder der 3. Advent, gell? „Morgen jährt sich zum 50. Mal der Tag, an dem die Nacht der braunen Diktatur über das von Bismarck gezimmerte Deutsche Reich hereinbrach“.
Nun, so geht’s ja immer, nicht? Erst zimmert einer ein Reich, und dann wird’s Nacht drüber. Ich geb‘ ja gern zu, daß die Geschichte, die metaphernschwangere Alte, einen nachgerade zur Stilblütenlese treibt (oder zum Tresen). Aber immer, wenn dann das Toynbeesche Gefühl wieder weg ist, mag ich einfach nicht glauben, daß sie so einfach „hereinbrach“. Die „Machtergreifung“ (da greift sich einer die Macht, wie?) habe an diesem Tag erst begonnen und sich in der Folge stabilisiert. Was machst Du nur immer mit der anderen Hälfte der Wahrheit, Franz! Die war doch schon mächtig dran. Da gab’s doch seit 1930 eine bürgerliche Militärdiktatur, und die Nazis haben den Stab in der Stafette doch von Euren Leuten übernommen (und dann gleich zwölf Jahre nicht mehr zurückgegeben). Steig doch mal in Eure Archive im Keller und lies nach, was die Kollegen der „Konstanzer Zeitung“ (‚Liberale‘ nennt man derart Leute wohl) zwischen 1930 und 1933 so von sich gegeben haben. Ins Auge geblickt haben sie ihr doch, der Nacht. Ich jedenfalls nenne sowas nicht „hereinbrechen“, ich nenn’s herbeireden.
„Die Geschichte kennt nicht wenige Tragödien und teuflische Entwicklungen“. Und ab geht die Post mit Hitler, Himmler, Heydrich und Barbie in den Tragödienhimmel. Das Leben ein Traum und ein Taumel, ein „Sturz in den Abgrund“, den „teuflische Entwicklungen“ lenken. Wir erklären uns für unzurechnungsfähig, das hat seinen Vorteil. Da können wir bis Stalingrad marschieren und, wenn’s langt, wieder retour, da können wir mitmischen und hinlangen, da können wir Kanzler werden und General. Dann sind wir aus dem Schneider. „Es war doch Krieg„, hat Klaus Barbie, der „Henker von Lyon“, zu seiner Entschuldigung ganz einfach gesagt. Wir haben gefoltert, vergast und zerstückelt. Aber es herrschte doch sowieso kein Frieden! Zwei Wörter, und wir sind die Verantwortung los. So einfach ist das.
„Das Volk, in dessen Mitte dies alles geschehen konnte, ist mit dem Aufstieg und Fall des NS-Reiches nie ganz fertig geworden.“ Hier redest Du den Leuten aber nach dem Mund, Franz. Mit dem Aufstieg schon. Mit dem Fall nicht. „Im Grunde konnte es dies nicht“. Im Grunde. Sag ich ja. Oder habe ich Dich mißverstanden? Hast Du gemeint, die seien noch gar nicht fertig damit?
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …
Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.
1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.
Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen
Aber einstweilen wurde erst mal der mildtätige Mantel des Vergessens gebreitet. „In der Bundesrepublik vollzog sich eine Form des Überlebens und Aufrichtens (sic!) in dem neu errungenen (sic! sic!) demokratischen Rahmen, die Respekt fand in der gesitteten Welt und noch findet“. Ja, der Jubel nimmt überhaupt kein Ende. Die Nacht ist gebannt, die Wolken sind verscheucht. Oder nicht?
„Doch über dem Gemeinwesen sind politische Wolken aufgezogen“. Mein Gott, Franz, ich glaube, Du hast als Kind zu viel in den Himmel geschaut. Was in der zweiten Abteilung der besinnlichen Stunde folgt, ist, glaube ich, das, was man ‚Die Lehren aus der Vergangenheit ziehen‘ nennt. Das ist man sich einfach schuldig. Das kann man sich nicht verkneifen. Weil ja schon die Arbeitslosenzahlen damals und heute ein so schlagender Beweis sind, daß Bonn nicht Weimar ist. Aber alles was Recht ist, Franz Oexle hält sich im zweiten Durchgang ganz wacker. Doch, Hut ab und keine falsche Bescheidenheit. Natürlich kann er die Dinge nicht so beim Namen nennen, wie er es wohl gerne täte. Aber für den aufgeklärten Eingeweihten wird doch mehr als klar, was er meint und auf wen er zielt. „Chaotische Kräfte, für die Gewalt und Diktatur keine Tabus mehr sind, haben politisch die Salonfähigkeit erreicht“. Denen „Fanatismus und Intoleranz Gevatter stehen“. Die uns ohne Wenn und Aber neue und noch mehr Raketen ins Land stellen und uns mit Gewalt in einen Atomkrieg treiben wollen. Die uns unter die Diktatur des Lohnabbaus und der sozialen Angst stellen möchten. Du forderst das Verbot der CSU? Komm an mein Herz, Franz! Oder zielst Du noch weiter? Mir wird schwindlig bei dem Gedanken. Bitte, sag, daß es nicht stimmt.
Am 30. Januar 1983 wurde, bald achtunddreißig Jahre nach dem Ende des Kriegs, in Konstanz eine Gedenktafel für den Widerständler Georg Elser enthüllt, der hier 1939 verhaftet worden war. Und als die Hüllen fielen, da konnte man auf der Tafel lesen: dem „Wiederstandskämpfer“. Konstanz, wie es lockt und lacht. Hier ruft halt das Wort Widerstand nur einen einzigen Gedanken wach: an jemanden, der wieder stand. Ein Tag zum Nachdenken. Und, gell Franz, niemand ist ein Insel.
Sunny März 1983