Was für ein Stellvertreter! (10)

aus: Nebelhorn Nr. 30, November 1983, von Jochen Kelter

Franz Oexle läßt die Zügel schleifen. Erst hieß es, er mache Urlaub. Aber auch seither hat man von ihm nicht viel Wetterwendisches und Wolkenseliges gelesen. „Die Lehre aus dem Treffen der 7 000“ hat er am 1. Oktober getitelt. Aber ich kann mit Sicherheit nicht berichten, ob’s um eine Mitgliederversammlung des FC Konstanz ging. Irgendwo mittendrin hat mich der Schlaf übermannt. Das war’s aber auch fast schon. Plagt den Franz herbstlicher Trüb- oder philosophischer Tiefsinn? Das Zipperlein gar? Bereitet er sich versuchsweise aufs Altenteil vor? Jedenfalls wimmeln in letzter Zeit die jungen Springinsfelde über die Titelseiten des Leib- und Magenblatts.

„Was für ein Vorsitzender“, ruft „Südkurier“-Vize Gert Appenzeller am 19. Oktober aus. Strauß? Kohl? Brandt? Andropow? Engelmann! Jawohl, Engelmann, in Franz Joseph Straußens Diktion „Schmeißfliege“ Engelmann, Bundesvorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller. Der nämlich hatte auf dem Kongreß der IG Druck und Papier (der nicht nur der Schriftstellerverband angehört, in der sogar – Pfui Teufel! – ein paar Südkurierler organisiert sein sollen) den diesjährigen Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels aufgefordert, seinen Preis zurückzugeben, weil er in seiner Dankesrede gegen die Friedensbewegung und die Abrüstung vom Leder gezogen hatte.

Engelmann, so Appenzeller, fällt es leichter, „eigene Rechte einzuklagen, als sie anderen zuzugestehen“. „Seine Attacke auf Manès Sperber legt den Schluß nahe, daß er selber unabhängige Denker nicht ertragen kann und will.“ Da leuchten ja wohl bei jedem freiheitsliebenden, demokratischen Menschen die Warnlampen auf! So einer ist das also. Da sieht man’s mal wieder: intolerant, totalitär sind diese Friedensbewegten und Kommunisten. Schmeißfliege Engelmann?

Hand aufs Herz, Gerd, was hätt‘ er denn sagen sollen? Okay, lieber Manès Sperber, du bist dafür, daß der Westen sich bis an die Zähne bewaffnet, wir, der Schriftstellerverband der Bundesrepublik sind zwar eher dagegen, aber das macht gar nichts, wenn’s um Preise geht, stellen wir unsere Grundsätze natürlich zurück? So in der Art, ja? Das ist doch das, was Ihr unter Liberalität versteht, gell? Eine, die uns zahnlos machen soll und für Euch nicht gilt. Ausgewogenheit, bis nur noch Eure Meinung übrig ist. Berufsverbote1 hat’s in dieser Republik nie gegeben! Nur, wer es dennoch behauptet hat, hat’s bekommen.

Besonders unanständig finde ich, daß Du auch noch mächtig auf die Tränendrüse drückst, Gerd. Stellst den Engelmann als einen hin, der jemanden angreift, „der selbst und dessen Familie über Jahrzehnte hinweg das Schicksal der Verfolgung aus rassistischen Gründen erlitt“. (Über Deutschfehler will ich mich hier nicht verbreiten, sonst müßte es ja wohl „erlitten“ heißen, nicht?) Der Engelmann hat nämlich selber „das Schicksal der Verfolgung“ erlitten, weißt Du, der hat bei den Nazis gesessen. Da steht es also, wenn man schon so will, eins zu eins. Weißt Du alles?! Eben. Deswegen hat man so eine Schreibe früher einmal demagogisch genannt.

„Darf sich der Verband deutscher Schriftsteller wirklich einen solchen Vorsitzenden leisten?“, fragt der Vize-Chefredakteur mit gekonnter Rhetorik am Schluß seines Artikelchens. Er darf, Gerd, er darf. Weil: Erstens sind die Brüder alle gegen „Nachrüstung“. Zweitens hat der Friedrich Zimmermann2 unverantwortlicherweise immer noch kein Gesetz erlassen, das die Wahl des Vorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftsteller regelt. Und drittens wird der Schriftstellerverband nicht vom Westen finanziert, sondern – gottlob – von der IG Druck und Papier, der die liberale ‚Süddeutsche Zeitung‘ nach dem Gewerkschaftskongreß erschreckt „Klassenkampftöne“ attestiert. Schmeißfliege Sunny?

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Ich habe ein bischen geblättert, um zu sehen, was der Gerd Appenzeller denn selbst so über den Frieden, die Friedensbewegung und die Vorbereitungen für den dritten Weltkrieg denkt und schreibt. Und bin dabei schneller als mir lieb war, fündig geworden. Da heißt es am 15. Oktober unter dem Titel „Wer unsere Freiheit bewahrt…“ aus seiner Feder: „Kann denn der beanspruchen, ernst genommen zu werden, für den Ronald Reagan und nicht Juri Andropow die Freiheitsrechte gefährdet?“ Heiliger Cowboy! Gerd, Du schreibst für eine Zeitung mit täglich über 140 000 Exemplaren, wie auf dem Kopf stolz verkündet wird, und nicht für ein Provinz-Käseblatt. Und da verzapfst Du einen so triefenden Quatsch, daß sich selbst die Geier in den Weiten Wyomings totlachen würden.

Und noch einmal Originalton Appenzeller: „wer jene, die sich an der Menschenkette von Stuttgart nach Ulm beteiligen, als vom sowjetischen Geheimdienst ferngesteuert bezeichnet, vergiftet die Atmosphäre des offenen Dialoges“. Aber wenn jene darangingen, Zufahrtsstraßen und Kasernen zu blockieren oder sonstwie die Aufstellung neuer Raketen ernsthaft zu behindern, würdest Du Dir’s nochmal überlegen, gell?

Nein, Franz Oexle, es geht einfach nicht, daß Du Dich schon nach Mallorca oder zu Deinen Skatbrüdern zurückziehst. Du mußt etwas unternehmen! Die machen sonst aus dem „Südkurier“ noch, ehe wir wissen, wie uns geschieht, so ein stromlinienförmig liberales Allerweltsblatt.

Sunny                                                                                                                                                November 1983

 

Anmerkungen:

1 1972 hatte die Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) einen sogenannten Radikalenerlass verfügt, der einem Berufsverbot gleichkam: Die staatlichen Behörden entließen zwischen 1972 und 1991 Hunderte von Beamten (Lehrerinnen, Postboten, Einsenbahner) aus dem Staatsdienst, weil der Geheimdienst sie für Extremisten hielt; Tausenden wurden die Einstellung – etwa an den Universitäten – verwehrt. Das Berufsverbot richtete sich fast ausschließlich gegen Linke; auch der Verfasser dieser Kolumne war davon betroffen. Diese Art von Berufsverbot gab es damals sonst nirgendwo in der Europäischen Gemeinschaft.

2 Der stramm rechte CSU-Politiker Friedrich Zimmermann (1943 in die NSDAP eingetreten) war von 1982 bis 1989 Bundesinnenminister.