Winterwetter (25)

aus: Nebelhorn Nr. 47, April 1985, von Jochen Kelter

Der „Südkurier“ hat mir am 19. März aus der Seele gesprochen. Ich will mich erklären: Am Vortag hatte mich auf schneebedekter Autobahn ein Fahrzeug überholt, war dabei ins Schleudern geraten und 50 Meter vor mir in die Leitplanken geknallt. Ich weiß jetzt noch nicht, wie ich die Kurve gekriegt habe. Aber als es vorbei war, hätte ich aussteigen und dem Kerl (oder – Gott bewahre! – der Frau?) eine knallen mögen.

„Je schlechter die Sicht, je glitschiger die Fahrbahn – desto todesmutiger der Mensch hinterm Lenkrad“, schreibt Walter Wolter, zuständig für die Wettervorhersage, tagsdarauf auf der Titelseite. Zu Recht. „Leichtsinn, Rennomiersucht und … gefährliche Selbstüberschätzung …“ Das ist es, jawoll! Man sollte sie alle, sollte man sie!

Es hat was Apokalyptisches. „Der Tod kommt auf Rädern“, titelt Walter Wolter (unterdessen vermute ich: ein Pseudonym!) seinen Wetterbericht. „Die Attacke des Winters erfolgt aus dem Hinterhalt.“

Wie die der Russen. Sie erinnern sich – damals in jenem Winter vor vierzig Jahren in Ostpreußen. „Zwei Tage vor Frühlingsanfang lasten Schneewolken über weiten Teilen Mitteleuropas.“ Und sie lasten noch immer! Der schwache Mensch ist auf diese Schicksalsprüfung indessen nicht vorbereitet. „Linksfahrer verennen sich auf Autobahnen…und schießen sich den Weg mit der Lichthupe frei.“ Ich sag’s ja, wie die Russen.

Die Kapitäne der Landstraße – „nur mit Aufputschtabletten mühsam wachgehalten“ -, die „ihre 30-Tonner-Diesel wie in Trance über Langstrecken walzen.“ All die Türken, Jugoslawen und das Heer der normalen Verrückten. „Sie fahren ’sportlich‘, sie fahren alkoholisiert, sie fahren mit Medikamenten im Blut oder mit stimulierenden Pharmaka. Und der Tod fährt mit.“ Als gebildeter Kulturmensch sieht man’s mit an und faßt es nicht.

Der abendländische Kulturträger verlangt dennoch nach Erklärungen für das Unfassbare. „Wahrscheinlich steckt nicht einmal geschäftlicher Termindruck hinter dieser Stößigkeit“ (welch exquisites Bild in dunkler Zeit, dieser animalische Vergleich mit dem angriffslustigen Bock), „vielleicht nur der Wunsch, die Sportschau nicht zu verpassen.“ Ach, der Mensch! Es zieht ihn zu den banalsten Freuden. Für seine primitiven Genüsse riskiert er bedenkenlos ein „Chaos aus Blech, Benzin und Blut“ (man beachte den sinnstiftenden Stabreim in sinnloser Zeit!).

Nein, die Wahrheit ist, daß es wie bei jeder ordentlichen Apokalypse eine Erklärung nicht gibt – außer der einen: Der Mensch hat nicht alle Tassen im Schrank., er hat einen Sprung in der Schüssel. „Nirgendwo ist der Blutzoll in Friedenszeiten so hoch wie auf Straßen und Autobahnen.“ In Friedenszeiten! Homo homini lupus.

Jochen Kelter: Finstere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse greift ein. 35 Glossen.
Jochen Kelters Glossen erschienen zwischen Dezember 1982 und März 1986 unter dem Pseudonym „Sunny“ im Regionalmagazin Nebelhorn, Konstanz. Seine Kolumnen, die zumeist Leitartikel des damaligen Südkurier-Chefredakteurs Franz Oexle zerpflücken, reflektieren die großen Ereignissen der damaligen Zeit: Mit Kanzler Helmut Kohl (CDU) beginnen bleierne Jahre, die NATO-Aufrüstung löst eine breite Antikriegsbewegung aus, die IG Metall kämpft für die 35-Stunden-Woche, die USA überfallen Grenada, die Flick-Parteispenden-Affäre fordert ein paar Opfer …Sunnys Glossen zeichnen somit auch das Bild bewegter Jahre – mit Hausbesetzungen, Friedensblockaden, der zunehmenden Vernetzung regionaler Initiativen und Alternativzeitungen. Dazu gehörte das selbstverwaltete Nebelhorn, das 1980 zuerst als „Stadtzeitung für Konstanz“ erschien, ab 1984 als „Regionalmagazin für Politik und Kultur“ firmierte und bis 1989 über Ereignisse und Entwicklungen im westlichen Bodenseeraum berichtete.1986 erschienen die 35 Glossen im Drumlin-Verlag unter dem Titel „FINSTERE WOLKEN, VATERLAND. Die deutsche Provinzpresse greift ein“. 35 Glossen. Mit einem Nachwort von Pit Wuhrer. Weil das Buch längst vergriffen ist, erscheinen die 35 Episoden nun als Online-Neuauflage auf seemoz, immer sonntags.Vorwort von Jochen Kelter zur Online-Neuauflage der „Sunny“-Glossen

Etwas anderes wäre es, wenn man ihm statt „bundesdeutscher Amateur-Rennbahnen“ vierspurige Autobahnen bis vor die Haustür bauen und das Tier in ihm quasi hervorkitzeln würde. Wenn man ihm ein idiotisches Fernsehprogramm vorsetzen, billigen Sex und jede Art von Drogen vor den Latz knallen, ihn mit primitiver Werbung beharken würde. Doch davon kann Rede nicht sein. Stattdessen bieten wir Kulturmenschen ihm ein großzügig ausgebautes Nahrverkehrsnetz an, geradezu paradiesische Zugverbindungen und Bahnpreise, die jeden Vergleich spotten.

Er aber holt seine Rostlaube aus der Garage, stürzt sich auf unwegsame Landstraßen, läßt die Sau und den Wolf in sich los und tötet seinen Nächsten.

Sunny                                                                                                                                                     April 1985