30 Jahre teatro caprile

Krimmler Achental 2018 © Gottfried Perz

Bei zwei geführten alpinen Tageswanderungen unweit der schweizerischen bzw. italienischen Grenze, an Orten gescheiterter und erfolgreicher Fluchtversuche vor, während und auch nach der nationalsozialistischen Herrschaft gewährt teatro caprile auch diesen Sommer Aus- und Einblicke in die Landschaft, die Zeitgeschichte und dich selbst, wenn du Publikum mit uns Schauspielenden bergan stapfend gleichermaßen der Sonne oder dem Regen trotzt.

Wie alles begann …

1993 begründeten Katharina Grabher, Andreas Kosek und Mark Német in Wien den Ziegenstall (rätoromanisch caprile). Waren unsere ersten Produktionen dem absurden Theater zuzurechnen, kamen im Zuge der EU-Osterweiterung Stücke aus dem CEE-Raum auf unseren Spielplan. Nach nicht immer glückbringender Fremdregie beschlossen wir 2004, die Projekte über die Idee und Finanzierung hinausgehend bis zur Inszenierung durch Andreas selbst zu gestalten. Da Mark sich früh auf einen außertheatralen Brotberuf konzentrierte, wechselten die Mitspielenden nach Vorgabe der sehr verschiedenen Stücke, etwa von Ingmar Villquist, Jura Soyfer, Peter Nádas, Florian L. Arnold oder Collagen mit einem hohen Anteil an selbstgeschriebenen Szenen. So manche Produktion führte uns in Länder, die wir sonst wohl kaum kennen gelernt hätten.

Katharina Grabher und Andreas Kosek mit Dragan Velikićs „Montevideo“ im Österr. Kulturforum Teheran © Mojtaba Salek für ÖKF-Teheran

Stationentheater in Gebäuden

Parallel entwickelten wir ab 2005 site-specific-projects oder ortsverbundene Projekte, die bei etwa 50 Personen die Nutzung besonderer Räume erlauben und durch den intimen Rahmen eine genauere Wahrnehmung und tiefere emotionale Rezeption ermöglichen. Angefangen haben wir in zur Sanierung vorgesehenen Gebäuden in Wien mit deren Geschichte und Verwendung sowie markanten Persönlichkeiten und Begebenheiten des jeweiligen Bezirks, von der Ottakringer Heurigenpartie zur Arbeiterolympiade, vom NS-Verhör eines katholischen Jugendbetreuers zum aus dem Ruder laufenden Fernsehabend zu Beginn des TV-Zeitalters. Auch eine wunderschöne Märchentour durch Umschaids Weinkeller in Herrnbaumgarten muss hier Erwähnung finden. In den Räumen bzw. jeweiligen Sonderausstellungen des vorarlberg museum Bregenz wurden meine Stücke über die Familie Riccabona (2017) und Rudolf Wacker, einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit, (2018/19), abgegangen. Beide hatten auch lebensentscheidende Berührungen mit dem Nationalsozialismus: Max Riccabona wurde in Dachau als Schreiber von Dr. Raschers Menschenversuchen traumatisiert, Rudolf Wackers Herz versagte nach mehreren Verhören wegen seiner angeblichen KP-Mitgliedschaft – dabei hatte er lediglich aus seiner mehrjährigen Kriegsgefangenschaft in Sibirien Freundschaften und ein Interesse für die russische Kultur mitgebracht.

Katharina Grabher, Roland Etlinger, Suat Ünaldi und Ruth Grabher in „Rudolf Wacker“ © Fatih Öczelik für vm-Bregenz

Auf der Flucht

Länger hatten wir auch schon erwogen, Geschichten in Landschaften zu verorten. 2012 kam von Michael Kasper, dem Direktor der Montafoner Museen Schruns, die Anregung, die Grenze zwischen Vorarlberg und der Schweiz zum Thema und Ort eines Projekts zu machen. Rasch entschieden wir uns für die NS-Zeit und das Bergdorf Gargellen, jenen Ort, in dem der Schriftsteller Jura Soyfer und sein Freund Hugo Ebner einen Tag nach dem „Anschluss“, festgenommen wurden. Soyfer war Kommunist, da diese – damals längst illegale Partei – die klarste Position gegen Hitler und für ein eigenständiges Österreich vertrat. Unsere erste Theaterwanderung beginnt mit seinem vergeblich warnenden Gedicht „SAURIER, ERWACHE!“, geschrieben 1933, kurz nach der Machtübernahme in Deutschland.

Manchmal schufen Riesenechsen von besonderer Statur
schlau und roh, zu fünfen, sechsen eine Urwalddiktatur.
Wer nicht kuschte, ward zerrissen „Auf der Flucht“ im Urgestein.
Dieser Brauch hat schwinden müssen?
Nein verehrter Saurier, nein!

Ausschlaggebend war aber auch das Hotel „Madrisa“, von dem damals Flüchtende gestartet sind und das uns jetzt als Spielort und Unterkunft noch immer sehr entgegenkommt. Zudem lebt in Gargellen Friedrich Juen, ein Großneffe des Fluchthelfers Meinrad Juen, der uns als Guide zur Verfügung steht. Und nicht zuletzt ein wenig begangener Steig mit Ställen und idealen Spielplätzen unterwegs.

Die Idee, dass Katharina und Andreas das Projekt nur mit einer zusätzlichen Tänzerin durchführen, musste wegen der stofflichen Vielfalt rasch modifiziert werden. Ein zweiter Mann musste her und Maria King, die Tänzerin, die sich bereit erklärt hatte in der leeren Güllegrube zu tanzen, in anderen Szenen auch zu sprechen. Bei einer anderen Aufführung des teatro caprile in Lochau outete sich ein Zuseher als Schauspieler. Nachdem er auch Wanderfreude bekundete, war Roland Etlinger auch schon mit im Boot. Da wir aber auch unbedingt die Schlussszene aus Franz Werfels Roman „Cella oder die Überwinder“ einbauen wollten, in der ein Schweizer Zöllner nach langem inneren Kampf zwei Juden passieren lässt, brauchte es noch einen dritten Mann. Mark, unser Mitstreiter der ersten Stunde, war rasch begeistert und so konnten wir aus dem Roman auch den Disput des Rechtsanwalts Bodenheim mit dem Musikkritiker Lateiner über die Ursachen des nationalsozialistischen Aufstiegs in Szene setzen. Beide machen ihn in der durch die illustrierten Medien massiv unterstützten Vereinheitlichung der Jugend zum so hübschen wie dynamischen Sportmenschen fest.

Mark Német und Andreas Kosek © Friedrich Juen

„Meine Freunde sind ausgelöscht. Man wird mit mir anstellen, was man will.“ Diese und ähnlich nachdenklich stimmende Sätze begleiten bei der Montafoner Theaterwanderung: Etwa die Erklärung des Schweizer Zöllners, dass Rasse (ungeachtet dessen, dass Juden genau deshalb im Reich verfolgt werden) kein Asylgrund sei und man den heimischen Arbeitsmarkt vor Überfremdung schützen müsse sowie das daraus resultierende Angebot der Nazis, die Pässe der deutschen Juden mit einem „J“-Stempel zu kennzeichnen.

Was 2013 mit einer Pilotveranstaltung begann, gewann 2016 den Hauptpreis der „Vorarlberger Tourismus-Innovationen“ und schafft seit vielen Sommern bei 9 Wanderungen eine Auslastung von über 100%. „Auf der Flucht“ wurde in diesem Magazin bereits vorgestellt.

Das tapfere Publikum © Friedrich Juen

Das Besondere unserer Theaterwanderungen

…ist das Spiel am historischen Ort. Hinzu kommt – wenngleich das Publikum natürlich besser ausgerüstet ist als die Schauspielenden – die Konfrontation mit dem eigenen Empfinden von Wärme, Kälte, Nässe und körperlicher Anstrengung. Dies schafft eine zusätzliche Wahrnehmungsebene, um sich die Strapazen und Leiden flüchtender oder verhafteter Menschen vorstellen oder nachempfinden zu können, etwas, das im bequemen Theatersessel zusätzliche Liter Theaterblut und dröhnende Schockvideos vielleicht nie erreichen. Man schaut nicht zu, sondern gehört dazu und die Gehstrecken zwischen den Szenen ermöglichen die unmittelbare Reflexion und evozieren Fragen um die eigene Zivilcourage oder wie man sich als Flüchtender verhielte.

Flucht über die Berge – In memoriam Marko Feingold

Krimmler Wasserfälle © Hans Nerbl

2015 wurden wir durch liebe Freunde auf die Gedenkwanderung in Krimml aufmerksam. Angespornt durch den Erfolg in Vorarlberg schrieb und konstruierte ich zusammen mit Hans Nerbl, ehemals tatkräftiger Mitstreiter der Gedenkwanderung und des daraus hervorgegangenen Sozialhilfevereins, eine Theaterwanderung entlang der bekannten Krimmler Wasserfälle über die nur wenig bekannte illegale Auswanderung jüdischer displaced persons 1947. Die Mehrheit wollte nach Palästina, um dort die Gründung des Staates Israel zu forcieren. Leider provozierte diese Rückkehr „in das Land der Väter“ durch die Verdrängung der Palästinenser einen Konflikt, dessen Lösung weiter entfernt ist als je zuvor. Doch für die KZ-Überlebenden des Sommers 1947 war ein jüdischer Staat außerhalb des mörderischen Kontinents Europa eine Hoffnung. Frankreich und Großbritannien jedoch, die im Nahen Osten seit dem Ende des Osmanischen Reiches das Sagen hatten, bangten um ihre Wirtschaftsinteressen, weshalb Juden weder die Einreise nach Palästina noch die Ausreise aus Österreich erlaubt war. Letzteres konnten sie leicht kontrollieren, da sich alle Grenzübergänge nach Italien, von dessen Häfen getarnte Schiffe nach Palästina ausliefen, in der französischen (Tirol) oder britischen (Kärnten) Zone befanden. Als sämtliche Täuschungsmanöver versagten, entdeckten die zionistische Fluchthilfeorganisation „Bricha“ und der Holocaust-Überlebende Marko Feingold (1913-2019 – unser Nachruf) die Pässe zwischen Salzburg bzw. der amerikanischen Zone und Italien, lediglich zwei meist auch sommers schneebedeckte Saumpfade über 2500m. Man riskierte es und aufgrund günstiger Wetterbedingungen konnten bis zu 8000 Jüdinnen und Juden in Gruppen von etwa 200 Personen hinüber geschleust werden. Amerikaner und Italiener schauten weg und den Österreichern samt ihren Behörden war es nur recht, wenn sich das Problem auf diese Art von selbst löste. Das ist die Ausgangslage der Theaterwanderung, dessen junges Ensemble aufgrund anderer Engagements immer wieder wechselt. Über beide Wanderungen berichtet etwa Widerstand 144 ab S. 36.

Im DP-Lager „Givat Avoda“ (hebräisch für „Hügel der Arbeit“) in Saalfelden, etwa 70 Kilometer von Krimml entfernt, bereitet man sich in diversen Kursen auf die Urbarmachung Palästinas vor oder studiert ein Stück über das Leben im Schtetl ein. Der Bergführer Viktor Knopf, der im KZ Ebensee befreit wurde und in seiner schlesischen Heimat weder Familie noch Freunde wieder fand, sucht Freiwillige, die den Marsch über den Krimmler Tauern erstmalig wagen. Das Publikum gehört zu dieser Gruppe und zieht mit den Schauspielenden hoch über dem angsteinflößend tosenden Wasserfall bergwärts. Nur schwer vorstellbar ist die Bewältigung dieser (heute bestens gesicherten) Passage mit schlechtem Schuhwerk und beladen mit Koffern, Schachteln und vielleicht sogar Kindern auf der Schulter. Im Krimmler Tauernhaus – wohin uns heute ein Shuttle bringt – stellt die Wirtin Räume für die Rast zur Verfügung, während die Lebensmittel von amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisationen geliefert werden. Mitunter kehren hier auch ehemalige „Herrenmenschen“ ein, doch eine offene Konfrontation würde die Pläne der „Bricha“ gefährden …

Aufstieg © Josef Bachl

Astrid Perz, András Sosko und Ivana Urban © Hannes Heidecker

Außer Viktor Knopf, zu dem ausreichend biografische Informationen vorlagen, sind die Figuren aus mehreren Frauenbiografien und KZ-Erinnerungen zusammengefügt. Da ist Szusza, die ungarische Jüdin, die 1944 doch noch deportiert wurde, aber schon bald nach der Befreiung in einem Auffanglager geheiratet hat und nur vom Familienglück in Palästina träumt. Da ist Monika, Angehörige der deutschsprachigen Minderheit einer slowakischen Stadt, deren elterliche Wohnung samt ursprünglicher Möblage nun von Slowaken bewohnt wird und die ihre Energie statt in unendliche Behördenwege zur Wiedererlangung des Familienbesitzes lieber in den Aufbau Israels investiert. Und da ist Esther, die Zeitbombe, die – eine verbürgte Begebenheit – zur Strafe für ihren Lebensmittelraub, den tatsächlich die Aufseherin getätigt hatte, einen ganzen Tag mit einer Karotte im Mund vor der Küchenbaracke stehen musste. Und schließlich Gabrielle, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters unbedingt mit will und Chaim, der eigensinnige Regisseur des Lagertheaters.

Doch auch Menschen, denen eine Heimkehr möglich war, da ihr Zuhause noch existierte und Angehörige sie erwarteten, hatten Mühe, an ihr früheres Leben anzuschließen. Die französische Schriftstellerin Charlotte Delbo, wegen Mitarbeit in der Resistance ins KZ gekommen, schreibt in ihrem Buch „Trilogie“.

WENN man vom Krieg oder anderswoher zurückkehrt
Und dies ein anderswo ist
das sich die anderen nicht vorstellen können
ist es schwierig zurückzukehren

Dank der französischen Frau unseres Guide können wir dieses Gedicht zweisprachig bringen, was seinen Tiefgang verstärkt.

 

Es ist vorbei! Ivana Urban, Heide Maria Hager, Astrid Perz © Gottfried Perz

Es ist schwierig zurückzukehren! Céline Nerbl © Ernst Löschner

Wir erinnern aber auch an Ilse Weber. Noch in der österreichisch-ungarischen Monarchie in Mähren geboren, schrieb sie in der Zwischenkriegszeit Märchen und Theaterstücke für Kinder. Mit der gewaltsamen Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich wurde sie für die schockierten Tschechen zur Deutschen, für die Deutschen aber zur Jüdin. Ins Ghetto Theresienstadt umgesiedelt arbeitete sie in der Kinderkrankenstation und beschrieb in zahlreichen Gedichten das Lagerleben, etwa in „Die Hungernden“.

Und was den Menschen adelt und ehrt,
Der Hunger, der Hunger, der Hunger zerstört.
Man bricht die Treu, verletzt das Gebot
Und verkauft sein Gewissen für trockenes Brot.

Im Herbst 44 wurde sie mit ihrem siebenjährigen Sohn in Auschwitz ermordet.

Ein besonderer Aspekt der Krimmler Theaterwanderung ist der dezidierte Gegenwartsbezug. Während die Juden nach einer erzwungenen Pause in einem Stall mit neuem Elan dem Pass zustreben, kommen schwarzafrikanische Asylbewerber den Pfad herunter. Eine sehr theoretische Annahme, da solche Wege für heutige Schlepper wohl zu beschwerlich sind, aber ein eindrückliches Bild, das ich von Anbeginn wollte. Wir dürfen gespannt sein, wer diesmal kommt und was sie uns zu erzählen haben.

Ski Labor

Unsere jüngste Theaterwanderung wurde nach mehreren Pandemie-Verschiebungen im Februar und März 2022 in Lech aufgeführt. In der mondänen Fremdenverkehrsregion Arlberg durften Szenen zur tödlich endenden Deportation des verdienten aber jüdischen Fremdenverkehrspioniers von St.Anton am Arlberg, Rudolf Gomperz, und der Verhaftung des Nazigegners Hannes Schneider, Erfinder der Arlbergtechnik und bekannt aus den Skifilmen von Arnold Fanck, nicht fehlen. Auch diese Produktion erhielt den Hauptpreis „Vorarlberger Tourismusinnovationen“. Für die Kooperationspartner Lech-Museum und Lech-Zürs-Tourismus allerdings kein Ansporn, sich ernsthaft für eine Fortsetzung dieses Winterspaziergangs einzusetzen. Wir hoffen, mit den vorhandenen Subventionen in eine andere Skidestination übersiedeln zu können.

Die Sommertermine

Flucht über die Berge
Auf den Spuren des jüdischen Exodus von 1947

Nettoanstieg 600 Höhenmeter, Teilstrecken mit Shuttle. 23./24./25./30. Juni sowie 1. Juli, 8:30 Uhr – Tourismusbüro Krimml (Sbg.) Reservierung unbedingt erforderlich: TVB Krimml 0043 6564 7239 0 / info@krimml.at

Auf der Flucht – 1938

500 Höhenmeter, teilw. steiler, aber nicht ausgesetzter Anstieg auf 1.950 m. 14./15./16.Juli | 25./26./27. August | 01./02./03. September
08:45 Uhr –  vor der Kirche in Gargellen (Vbg.)

Nur Vorverkauf: www.montafon.at/auf-der-flucht.
www.teatro-caprile.at

Hunde und Kinder bitte unbedingt zu Hause lassen!

Text & Bilder: teatro caprile

 

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