Ausflüge gegen das Vergessen (15): Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel
Um „der Zigeunerplage Herr zu werden“ errichtete die Stadt Ravensburg auf eigene Initiative 1937 im Ummenwinkel ein „Zigeunerlager“. Seit Jahrzehnten in Ravensburg ansässige Sinti-Familien wurden dorthin zwangsumgesiedelt und viele von ihnen schließlich am 13. März 1943 auf Basis des vom „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler unterzeichneten „Auschwitz-Erlasses“ nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Vor der Pfarrkirche Sankt Jodok erinnert seit Januar 1999 eine schlichte Gedenk-Stele an ihr Schicksal.
Entrechtet, verfolgt, vernichtet
Die Errichtung des „Zigeunerlagers“ in Ravensburg markierte den vorläufigen Höhepunkt einer Politik der rigorosen Abschreckung, die sich nach dem ersten Weltkrieg zunehmend verschärft hatte und auf die Vertreibung der Ravensburger Sinti zielte. Jahrhundertelang stigmatisiert, diskriminiert und kriminalisiert waren sie – wie Jüdinnen und Juden – als Mitglieder einer „artfremden Rasse“ von der Rassengesetzgebung der Nazis ab 1935 aus der „arischen Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen worden. Im November 1937 – noch bevor im Oktober 1939 per Erlass die „Festsetzung“ aller Sinti und Roma an Ort und Stelle ihres jeweiligen Aufenthalts verfügt wurde – entstand an dem der Stadt gegenüberliegenden Ufer des Flüsschens Schussen auf einem Flurstück mit Namen Ummenwinkel das Zwangslager. Etwa 100 Sinti wurden dorthin umgesiedelt und interniert, darunter etwa 60 Kinder und Jugendliche.
Bereits zuvor waren sie im März 1937 von MitarbeiterInnen der im Jahre 1936 gegründeten Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) „rassenbiologisch“ erfasst worden. Die dabei erstellten pseudowissenschaftlichen Gutachten bildeten nicht nur die Grundlage für die Zwangsumsiedlung, für Heiratsverbote und Zwangssterilisationen – sondern lieferten auch die Selektionskriterien für die spätere Deportation in das „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau.
Das Ravensburger Barackenlager war von Stacheldraht umzäunt; die Männer mussten Zwangsarbeit verrichten, vorwiegend im städtischen Tiefbau sowie in der Landwirtschaft der Region. Nur wer zur Arbeit oder zur Schule ging, durfte das Lager verlassen. An den fast täglich stattfindenden schikanösen Kontrollen soll der von 1932 bis 1945 amtierende Bürgermeister Rudolf Walzer, auf dessen Veranlassung das Lager errichtet wurde, manchmal persönlich teilgenommen haben.
Die Deportation nach Auschwitz-Birkenau
Am frühen Morgen des 13. März 1943 umstellten Männer der Kriminal- und Schutzpolizei und der Gendarmerie Ravensburg das „Zigeunerlager“ Ummenwinkel. Das Reichssicherheitshauptamt hatte die familienweise Einweisung sämtlicher „Zigeunermischlinge und Rom-Zigeuner und nicht deutschblütiger Angehörigen zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau angeordnet. Betroffen davon waren von Februar 1943 bis zum Sommer 1944 etwa 23.000 Sinti und Roma in Deutschland und den besetzten Gebieten.
Aus den Reihen der vor den Baracken im Ummenwinkel zusammengetriebenen Ravensburger Männern, Frauen und Kindern wurden 34 Menschen selektiert. In aller Eile durften sie wenige Sachen zusammenpacken; das Meiste mussten sie zurücklassen. Zwei Tage lang wurden die Sinti-Familien festgesetzt, die Frauen und Kinder im Polizeigefängnis an der Seestraße, die Männer im Polizeigefängnis Grüner Turm. Unter den Inhaftierten befanden sich acht Kinder und Jugendliche im Alter von neun bis achtzehn Jahren und fünf Kleinkinder im Alter von drei Jahren und jünger, ein sechs Monate alter Säugling und eine hochschwangere Frau. Die älteste Sintiza war die 83 Jahre alte Kreszentia Schneck. Am Morgen des 15. März 1943 trieben Kriminal- und Schutzpolizei die Menschen durch die Südstadt zum Bahnhof für den Abtransport nach Stuttgart. Dort mussten die Inhaftierten zum Stuttgarter Polizeipräsidium marschieren.
„ … als wir dann dort ankamen, da waren schon so viele Leute drin – und es war gesteckt voll. … die waren verschwitzt, die waren so zusammengepresst. einfach, … einigen war schlecht. … Die Leute sind manchmal umgefallen … wir hatten einfach Angst. … Im Polizeipräsidium … da haben sie doch protokolliert … was sie da gemacht haben, wer und wie viele da sind, so und so viele … Ja, und dann hat man uns, mit Lastwagen zum Bahnhof gebracht, auf die Waggons verladen und da waren wir dann lange noch. Ich [weiß] nicht, wie lange wir dort in den Viehwagons gestanden [haben], mehrere Stunden, bis alle so verladen waren und dann alles so registriert war“, hat Esther Sattig eine der wenigen Überlebenden zitiert.
Nach Einbruch der Dunkelheit verließ der lange Güterzug – einer der fünf „Zigeuner-Transporte“ aus dem Gebiet Baden-Württembergs und heute als „Stuttgarter Transport“ bezeichnet – am 15. März 1943 mit 260 Sinti und Roma aus ganz Württemberg-Hohenzollern den Stuttgarter Güterbahnhof.
„… Ich weiß nicht mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat. Zwei oder drei Nächte waren es. Wir sind spät abends oder nachts, es war schon dunkel, in Auschwitz-Birkenau angekommen. Nach dem Öffnen der Waggons sah man überall die Scheinwerfer, die alles beleuchteten. Die Schreie […] der SS, die Befehle, das Gebell der Hunde…“.
Innerhalb von nur wenigen Wochen starben alle Kinder aus Ravensburg. Nur fünf der Erwachsenen überlebten.
Nach ihrer Rückkehr hat die Stadtverwaltung die Überlebenden wieder auf dem Gelände des ehemaligen Lagers im Ummenwinkel angesiedelt; dort blieben sie bis 1984. Der im November 1937 angelegte Brunnen mit Handpumpe war bis zuletzt ihre einzige Wasserstelle.
Die Gedenkstätte vor der Pfarrkirche Sankt Jodok
Die am 27. Januar 1999 – am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau – eingeweihte Gedenkstätte vor Sankt Jodok in der Ravensburger Eisenbahnstraße ehrt auf einer Stahlstele namentlich 29 Männer, Frauen und Kinder, die als Folge der Deportation aus dem „Zigeunerlager“ ermordet wurden.
Darüber hinaus fielen mindestens 24 weitere Ravensburger Sinti, die zwischen 1938 und 1941 aus dem städtischen „Zigeunerlager“ geflüchtet oder gezielt von der Stadt Ravensburg vertrieben wurden, dem Völkermord zum Opfer. Wie etwa die Familie Anna und Ferdinand Winter und ihre sechs Kinder, die im sogenannten Sammellager Salzburg-Maxglan interniert war und vom Arbeitsamt unter anderem als „stilechte“ Filmkomparsen für den Leni-Riefenstahl-Film „Tiefland“ zwangsrekrutiert wurde, bevor ihre Deportation nach Auschwitz erfolgte.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Verband deutscher Sinti und Roma: Zigeunerlager Ravensburg Ummenwinkel
Gedenkorte Sinti und Roma: Ravensburg
Namen der 260 ab Stuttgart am 15. März 1943 Deportierten
Peter Eitel (Hg.): Ravensburg im Dritten Reich. Beiträge zur Geschichte der Stadt, 1997
Esther Sattig: Das Zigeunerlager Ravensburg Ummenwinkel. Die Verfolgung der oberschwäbischen Sinti, 2016
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)
Im Ravensburger Museum im Humpis-Quartier läuft zur Zeit und noch bis Ende Januar 2022 die sehr sehenswerte Ausstellung „Ausgrenzung und Verfolgung – Ravensburger Sinti im Nationalsozialismus“: http://www.museum-humpis-quartier.de/mhq/museumswelten/Ausstellung_Ausgrenzung_Verfolgung.php
Lieber Dirk Kirsten,
1957, als Hildegard Franz eine Einmalzahlung über 150 Mark erhielt, war Hans Globke – der Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze – noch Konrad Adenauers engster Berater; von Fritz Bauer, der Mitte der 1960er Jahre den Auschwitz-Prozess erstritt, ist das Zitat überliefert: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“. Und wenn wir uns vergegenwärtigen, welchen Aufschrei die von Hannes Heer konzipierte Wehrmachtsausstellung noch Mitte der 1990er Jahre auslöste, erstaunt nicht, dass deutsche Ministerien erst im 21. Jahrhundert begannen, sich damit zu beschäftigen, welch fatale Folgen es hatte, dass so viele frühere NSDAP-Mitglieder wieder an Schaltstellen der Macht agierten:
Lange Zeit hat die „Prüfung der Wiedergutmachungsanträge der Zigeuner und Zigeunermischlinge nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes zu
dem Ergebnis geführt, dass der genannte Personenkreis überwiegend nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert worden ist.“
Im Jahr 1990 bearbeiteten die Anwälte des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma eigenen Angaben zufolge noch immer 525 Entschädigungsverfahren schwerstgeschädigter Opfer, die bis dahin unzureichend oder nur in Einzeltatbeständen überhaupt entschädigt worden waren.
Mittlerweile – nachdem es nun wirklich keine höherrangigen Täter mehr zu decken gilt – ist eine Vielzahl von Publikationen (oft als Promotions- oder Habilvorhaben) zu Einzelaspekten des NS-Terrors erschienen, die sich aber eher an ein wissenschaftliches Publikum richten. Und an vielen Orten in Baden-Württemberg und dem benachbarten Ausland sind kleine Museen und Gedenkstätten entstanden, die aber meist nur im engeren lokalen Umkreis bekannt sind. Der Wunsch, sie zumindest schlaglichtartig vorzustellen, gab den Ausschlag für diese Artikelserie. Allein die große Anzahl der ehemaligen Konzentrationslager bei uns im Land bietet „Stoff“ bis Ende des Jahres …
Ob es uns aber auch gelingen wird, für dieses Thema einen Verlag zu finden, wird sich zeigen.
Liebes Seemoz-Team, liebe Sabine Bade,
ein ganz generelles Kompliment mal für diese fantastische Reihe „Ausflüge gegen das Vergessen“. Mir sind im Rahmen dieser Reihe jetzt sehr viele Namen und Orte zum ersten Mal begegnet, die ich schlicht bislang nicht kannte und die doch so wichtig sind zu kennen. So auch bei dem Bericht über das Ravensburger Zwangslager, bei der kurzen Recherche zu noch mehr Infos bin ich auch über Frau Franz gestolpert (https://de.wikipedia.org/wiki/Hildegard_Franz) und möchte kurz auf die unglaubliche Unverschämtheit und Ignoranz deutscher Stellen im Nachkriegsdeutschland hinweisen, dass Frau Franz als „Ausgleich“ für ihre selbst erlittene Haft und den Tod ihres Mannes und ihrer drei kleinen Kinder eine EInmalzahlung über 150 Mark (!!!) erhielt – Und das noch 1957! Daran sieht man gut, wie viele Täter sich auch im Nachkriegsdeutschland noch an entscheidenen Stellen bewegen konnten und ihr Gift weiter versprühten.
Daher finde ich diese Artikel auch so unfassbar wichtig, dass wir dieses Kapitel der Geschichte nicht vergessen, insbesondere wenn jetzt die letzten Zeitzeugen in naher Zukunft nicht mehr unter uns weilen werden. Und ich denke viele Leute können es auch konkreter begreifen, dass diese Untaten auch vor ihrer Haustür stattgefunden haben und nciht nur im weiter entfernten Auschwitz. Ich fände es daher großartig, wenn nach Abschluss der Reihe aus den Artikeln ein Buch bzw. Sammelband entsteht, das diese Texte sammelt und für lange Zeit erlebbar macht.