Ausflüge gegen das Vergessen (16): Das KZ Bisingen
Dass Baden-Württemberg am Ende des Zweiten Weltkrieges mit kleineren Konzentrationslagern übersät war, ist weitgehend unbekannt. Noch im August 1944 ließ das NS-Regime am Fuße der Hohenzollernburg in Bisingen ein KZ errichten, um im Rahmen des Unternehmen „Wüste“ aus Ölschiefer Treibstoff zu gewinnen. Mindestens 1178 KZ-Häftlinge wurden hier bei diesem völlig sinnlosen Unterfangen umgebracht. Ein KZ-Geschichtslehrpfad führt zu den Orten ihrer Leiden.
Das Unternehmen „Wüste“
Wo die Schwäbische Alb an ihrem Nordtrauf steil abbricht, lagern unter der Erdoberfläche mächtige Gesteinsschichten des Schwarzen Jura, aus dem sich Schieferöl gewinnen lässt. Und obwohl alle vorherigen Versuche der Ölgewinnung aus Ölschiefer stets unbefriedigende Ergebnisse erbracht hatten, startete das NS-Regime ab Mitte 1944 das Unternehmen „Wüste”: Treibstoff für die deutsche Wehrmacht und Luftwaffe sollte gewonnen werden, nachdem die Rote Armee die für die deutsche Kriegswirtschaft wichtigen Ölfelder in Rumänien besetzt und alliierte Luftangriffe die letzten Herstellungsanlagen für synthetisches Öl in Deutschland zerstört hatten. Während die Alliierten ständig weiter vorrückten, versuchten die Nazis, dem fast verlorenen Krieg durch wahnwitzige Rüstungsvorhaben und Treibstoffgewinnung eine neue Wendung zu geben.
Um den Schiefer abzubauen und in insgesamt zehn „Wüste“-Werken entlang der Bahnlinie Tübingen–Rottweil weiterzuverarbeiten, setzte das NS-Regime über 12.000 KZ-Häftlinge ein, die aus fast allen Ländern Europas deportiert wurden. Ihre Unterkünfte, sieben als Außenlager zum KZ-Komplex Natzweiler-Struthof gehörende Konzentrationslager in Schömberg, Frommern, Schörzingen, Erzingen, Bisingen, Dautmergen und Dormettingen, mussten die Häftlinge vorher selbst errichten. Es waren keine Massenvernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka oder Sobibor: Hier erfolgte „Vernichtung durch Arbeit“.
Auf dem „Zebra-Wegle“ vom KZ zum Schieferabbau im Kuhloch
In fünf großen Transporten kamen von August 1944 bis Anfang März 1945 insgesamt über 4000 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Auschwitz, Stutthof bei Danzig, Vaihingen-Enz, Dachau und Buchenwald nach Bisingen. Unter diesen Häftlingen befanden sich auch circa 1500 Juden und eine unbekannte Anzahl Sinti und Roma.
An der Bisinger Schelmengasse, umgeben von Wiesen und Feldern nur wenige hundert Meter vom Ortsrand entfernt, mussten die zuerst eingetroffenen Häftlinge das Lager errichten. Es bestand aus fünf Baracken, war von Stacheldraht umzäunt und von Wachtürmen umgeben. In der Mitte des Lagers befand sich der Appellplatz. Dort mussten die Häftlinge, auch die Kranken, morgens und abends stundenlang stehen, um sich von der SS-Wachmannschaft auf schikanöse Weise zählen zu lassen. Dies war auch der Ort, an dem aus Abschreckungsgründen etliche Erschießungen und Erhängungen stattfanden.
Vom Lager aus wurden die Häftlinge jeden Tag von ihren Bewachern zum Wüste-Werk und der Schieferabbruchkante im Gewand Kuhloch getrieben. Die Route ist Zeitzeugen als „Zebra-Wegle“ in Erinnerung geblieben, so benannt nach der gestreiften Häftlingskleidung.
Schwerstarbeit bei eisigen Temperaturen, Mangelernährung, unhygienische Bedingungen im Lager, Epidemien und barbarische Misshandlungen forderten täglich Todesopfer. Die ersten 29 Toten des Lagers wurden im Krematorium in Reutlingen verbrannt, später wurden die Leichen in Massengräbern verscharrt. In den nur acht Monaten seines Bestehens starben im KZ Bisingen mindestens 1187 Männer.
Im April 1945 ließ der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler das KZ Bisingen vor Eintreffen der französischen Armee auflösen. Die Häftlinge wurden nach Dachau transportiert oder zu Fuß auf den „Todesmarsch“ getrieben, den viele nicht überlebten. Währenddessen sorgte der Bisinger Bürgermeister Hugo Maier für die Vernichtung brisanter Unterlagen, darunter auch die Sterbeurkunden der KZ-Opfer.
Auf dem KZ-Geschichtslehrpfad durch Bisingen
Ende 1946 ließen die französischen Militärbehörden die Massengräber durch Internierte des politischen Haftlagers Reutlingen öffnen. Die dort aufgefundenen 1158 Leichen wurden später auf dem neu angelegten KZ-Friedhof Bisingen beigesetzt. Dessen Einweihung erfolgte am 29. April 1947. Um das große Kreuz herum stand für jedes der namenlosen Opfer – eine Identifizierung war nicht möglich – ein kleines Holzkreuz.
Jahrzehntelang erinnerte lediglich dieser abgelegene Friedhof an das KZ Bisingen. Ansonsten sollte tunlichst darüber geschwiegen werden, dass der Ort Standort eines NS-Konzentrationslagers war. Mit diesem lange aufrechterhaltenen Tabu brachen erst Jugendliche einer örtlichen Arbeitsgemeinschaft der Jusos, die 1984 eine Broschüre zum KZ Bisingen und die dort verübten Verbrechen vorlegten. Die als Provokation empfundene Informationsschrift rief heftige Abwehrreaktionen hervor.
Seitdem ist sehr viel geschehen. Wie in Bisingen vor allem durch die Arbeit des „Gedenkstättenverein KZ Bisingen e.V.“ sukzessive die Bereitschaft wuchs, sich mit diesem Kapitel der Geschichte auseinanderzusetzen, ist auf der sehr informativen Homepage der KZ-Gedenkstätte Museum Bisingen nachzulesen (siehe unten: weiterführende Informationen). Mittlerweile wurde der KZ-Friedhof umgestaltet und ehrt jetzt auch die jüdischen Opfer. Das Ortsmuseum bietet als KZ-Gedenkstätte eine erst im Sommer 2019 neu gestaltete Dauerausstellung, in der auch detailliert auf die Schicksale der Opfer und die Karrieren der Täter eingegangen wird. Darüber hinaus führt ein bestens ausgeschilderter KZ-Geschichtslehrpfad durch den Ort. Er beginnt am Bahnhof, also genau dort, wo die großen Häftlingstransporte ab August 1944 ankamen. Er führt weiter zum ehemaligen Lagergelände an der Schelmengasse, wo ein Holzsteg den Weg zum früheren Appellplatz symbolisieren soll. Die nächste Station befindet sich im Kuhloch mit Meilerfeld, der Gebläsestation und der Abbruchkante des ehemaligen Ölschieferabbaugeländes. Am Ende des Gedenkpfades befinden sich das Gelände der ehemaligen Massengräber und der KZ-Friedhof.
In Bisingen – wie auch in vielen anderen Orten im Zollernalbkreis – wird eine Gedenkstättenarbeit geleistet, die sich manch anderer Ort zum Vorbild nehmen sollte. In der ehemaligen SS-Garnisonsstadt Radolfzell beispielsweise fehlt bis heute ein Hinweisschild, das den Weg zum – vom Land Baden-Württemberg offiziell als „Gedenkstätte“ anerkannten – ehemaligen SS-Schießstand weist.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Gedenkstättenverbund Gäu Neckar Alb – Bisingen
Gedenkstätten KZ Bisingen e.V.
KZ-Gedenkstätte Museum Bisingen
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Es war ein Bahnhof ohne Rampe. Ein Konzentrationslager am Fuße der Schwäbischen Alp, Stuttgart 2007
Gedenkstätte KZ Bisingen Imagefilm
Christine Glauning, Entgrenzung und KZ-System. Das Unternehmen „Wüste“ und das Konzentrationslager in Bisingen 1944/45, Berlin 2006
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)