Ausflüge gegen das Vergessen (31): Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil
Der Schweizer Diplomat Ernst Prodolliet (1905-1984) verhalf während der Naziherrschaft vielen deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden zur Flucht und rettete sie so vor dem sicheren Tod. 1982 wurde er von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, blieb aber in seiner Heimat weitgehend unbekannt. Nun errichtete die Gemeinde Amriswil am 1. Juli 2021 ihm zu Ehren eine Gedenkstele.
Im Heimaturlaub 1938 mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden konfrontiert
Nach einer kaufmännischen Lehre war Ernst Prodolliet im Jahr 1927 in den diplomatischen Dienst eingetreten. Er arbeitete – nach Stationen in Mannheim, New York und Chicago – als Kanzler der Schweizer Vertretung in Saint Louis (USA), als er im Frühjahr 1938 mit seiner Frau Frieda und Tochter Evelyn zu einem sechswöchigen Heimaturlaub in der Schweiz eintraf. Da war jedoch an Urlaub nicht mehr zu denken: Am 28. März 1938 hatte der Schweizer Bundesrat beschlossen, die Visumspflicht für österreichische Staatsangehörige wieder einzuführen. Für viele Jüdinnen und Juden und für erklärte GegnerInnen des Nazi-Regimes war nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 die Schweiz das erste Fluchtziel. Das bisher eher unbedeutende Konsulat in Bregenz war plötzlich zu einem Ort geworden, an dem täglich Dutzende von Einreiseanträgen geprüft werden mussten, sodass das Politische Departement Ernst Prodolliet anwies, seinen Urlaub zu verschieben und zunächst im Bregenzer Konsulat auszuhelfen. Während Frau und Tochter bei seinen Eltern in der Amriswiler Freiestrasse blieben, trat er am 1. April 1938 seinen Dienst als Konsulatsmitarbeiter in Bregenz an, zuständig für den Passdienst und die Erteilung von Visa.
Prodolliet übte seine Position mit Engagement aus, nahm als Freund guten Essens, Trinkens und eines gelegentlichen Pokerspiels aber auch rege am gesellschaftlichen Leben in Bregenz teil. Der „Charmeur erster Güte“ – so seine Großnichte Simone später – kam mit Freund und Feind ins Gespräch und soll auch laut Beobachtungen von Fahndern, die später auf ihn angesetzt wurden, Gestapo-Leute unverhohlen über deren organisatorische Einheiten ausgefragt haben.
Dass Prodolliet in Bregenz verbotenerweise Visa für bedrohte Jüdinnen und Juden ausstellte, die ihm von dem Schicksal, das sie erwartete, berichteten, blieb zunächst unerkannt. Auch geleitete er Verfolgte persönlich über die Grenze, wobei ihm zugute kam, dass er zuvor im Auftrag von Heinrich Rothmund, dem Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements und somit wichtigstem Akteur bei der Umsetzung der Schweizer Abschottungspolitik, das grenznahe Terrain auf mögliche Fluchtrouten untersucht hatte. Auch nutzte er seinen diplomatischen Status, um Menschen mit dem eigenen Dienstwagen in die Schweiz zu bringen. Um Grenzübertritte von Verfolgten zu organisieren, traf er sich auch mit Paul Grüninger, dem St. Galler Polizeikommandanten, mit Saly Mayer, dem Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), und weiteren engagierten FluchthelferInnen.
Durchreise-Visa ermöglichen Massenflucht nach Palästina
Wie vielen verfolgten Menschen Ernst Prodolliet allein während seiner Dienstzeit in Bregenz zur Flucht verholfen hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Nur wenige von ihnen sind namentlich bekannt.
In einer einzigen Nacht soll er circa 300 Durchreise-Visa ausgestellt und somit einige Zeit später Emigranten, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden aus Gailingen, die Durchreise durch die Schweiz nach Italien ermöglicht haben. In dem kleinen Ort am Hochrhein hatte die zunehmende Gewalt und Bedrohung zu einer regelrechten Auswanderungswelle geführt. Auf einer Informationstafel im Jüdischen Museum Gailingen sind die Namen all jener Menschen gelistet, die sich durch Ausreise noch retten konnten: Auffällig oft ist dort als Ausreiseziel im Februar 1939 „Shanghai“ genannt. Doch die Ausreise nach China war lediglich vorgeschoben. Das eigentliche – illegale – Ziel der Emigration war Palästina.
Die Vorbereitungen für diese Massenflucht, mit der 23 Menschen aus Gailingen zusammen mit mehreren Hundert anderen auf dem Landweg zunächst in die Hafenstadt Rijeka im heutigen Kroatien und von dort aus auf dem griechischen Kohlefrachter „Aghiazone“ (auch: Aghia Zoni, Agia Zoni oder Aghiazioni) nach Palästina gelangten, hatten fast ein Jahr zuvor begonnen. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs hatten Wiener Juden aus der zionistischen Jugendorganisation Betar diese Aktion ins Leben gerufen. In großer Zahl strömten junge jüdische Flüchtlinge aus Österreich mit Hilfe des „Makkabi-Hilfskreises für jüdische Flüchtlinge“ und anderer UnterstützerInnen zunächst in die Schweiz, wo die Wohnung der Familie Bornstein-Fink in der Splügenstraße 10 in Zürich zur Kommandozentrale für die geplante Auswanderungsaktion wurde. Gusty Bornstein-Fink war es auch, die später berichtete, Ernst Prodolliet, ihr Schulfreund aus St. Galler Jugendtagen, habe für diese Aktion circa 300 Durchreise-Visa ausgestellt.
In Gailingen, dem Ort, aus dem Gusty Bornstein-Fink mütterlicherseits stammte, begann das Unternehmen am 20. Februar 1939 mit einem kurzen Fußmarsch hinab zum Rhein und der Überquerung der alten, gedeckten Holzbrücke nach Diessenhofen, wo sie dank der Durchreise-Visa in den Kanton Thurgau einreisen durften. Im Zürcher Volkshaus trafen die GailingerInnen auf den Rest der Gruppe, vorwiegend junge jüdische Menschen aus Österreich. Über Mailand gelangten sie schließlich auf Schleichwegen in die Nähe von Rijeka, wo sie bis zum Ablegen des Frachters in außerhalb der Saison leerstehenden Hotels unterkommen konnten. Dass ein Schiff für jüdische Flüchtlinge bereitstand, hatte sich da bereits wie ein Lauffeuer herumgesprochen, so dass viele italienische Jüdinnen und Juden um Mitreise baten. Am 31. März 1939 verließ die „Aghiazone“ den Hafen von Rijeka, schwer überladen mit 460 Menschen an Bord. Nach einer vierwöchigen, von vielen Widrigkeiten unterbrochenen Odyssee konnten die Menschen am 27. April 1939 in Palästina an Land gehen.
„Unsere Agentur ist nicht dazu da, dass es den Juden gut geht“
Als diese Massenflucht begann, war Ernst Prodolliet in Bregenz längst seines Amtes enthoben worden. Zunächst missfiel seinem Vorgesetzten, Konsul Karl Bitz, vor allem sein Auftreten, sein „Ehrgeiz und Eitelkeit“. Aber auch Prodolliets Engagement für jüdische Flüchtlinge – über das Bitz allerdings nicht allzu gut informiert gewesen zu sein schien – nahm er zum Anlass, in einem Brief vom 29. November 1938 an den Chef des Konsulardienstes seine Abberufung zu fordern: „Ich bemerke des weitern, dass nach meinem Dafürhalten seine persönliche Einstellung für den hiesigen Platz ungünstig ist. Einerseits zeigt Herr Prodolliet eine zu schroffe Verneinung des heutigen Regimes, andererseits legt er ein viel zu grosses Interesse für die heutige Judenfrage an den Tag, sodass ein Grossteil seiner Zeit Verhandlungen mit Juden zukommt, die meines Erachtens für unser Bregenzerbüro kaum noch in Frage kommen sollten.“
Zum Verhängnis wurde Prodolliet ein Vorfall an der Schweizer Grenze: Nahe Diepoldsau versuchte er wieder einmal schwarz mit einem jüdischen Flüchtling, dem Deutschen Max Wortsmann, die Grenze zu überqueren und wurde dabei von Grenzwächtern aufgegriffen. Nach seiner Einvernahme musste Prodolliet seinen Posten in Bregenz Mitte Dezember 1938 wegen Nichtbeachtung behördlicher Vorschriften räumen. Bei einer erneuten Vernehmung im Februar 1939 wurden ihm die Grenzen seiner Aufgaben dargelegt: „Unsere Agentur ist nicht dazu da, dass es den Juden gut geht“. Ansonsten wurde konstatiert, dass er eher zu „Güte und Weichheit in Gefühlssachen neige“. Nachdem ihm diese mildernden Umstände zugestanden wurden, erfolgte im April 1939 Prodolliets Versetzung nach Amsterdam.
Auch dort soll er während der deutschen Besatzung Hunderte von Jüdinnen und Juden gerettet haben, indem er sie aus Deportationszügen holte, ihnen im Konsulat Unterschlupf gewährte, ihnen Papiere verschaffte oder dem Judenrat mit Geld und Adressen zur Seite stand.
Von 1943 bis 1945 war Prodolliet in der Berliner und der Pariser Gesandtschaft tätig. Nach dem Krieg folgten Anstellungen in Hamburg, Bordeaux, Nantes und Rotterdam. In Besançon bekleidete er in den 1960er Jahren erstmals das Amt eines Konsuls. Zuvor hatte er lediglich untergeordnete Positionen innegehabt. „Mehrere Beförderungen wurden ihm wegen seiner früheren Aktivitäten verweigert. Als man ihm kurz vor seiner Pensionierung anbot, doch noch die höchste Stufe der Diplomatie zu erklimmen und Schweizer Botschafter in Madagaskar zu werden, lehnte er dankend ab“, schreibt Simone Prodolliet.
Nach seiner Pensionierung kehrte Ernst Prodolliet nach Amriswil zurück. „Es war eine Selbstverständlichkeit“, sagte er später, wenn am Familientisch über seine Zeit im Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde, „ein Gebot von Anstand und Redlichkeit“.
Am 18. November 1982 wurde er durch den Staat Israel als einer der Gerechten unter den Völkern geehrt. Ein Jahr später starb er in einem Altersheim in Amriswil.
Spätes Gedenken
In der Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen wird Ernst Prodolliet bereits seit mehreren Jahren – neben Carl Lutz, Regina Kägi, Recha und Isaak Sternbuch und Paul Grüninger – mit einer Gedenktafel als einer jener Frauen und Männer geehrt, die in ganz besonderem Maße Zivilcourage bewiesen hatten. Nun errichtete die Gemeinde Amriswil in Zusammenarbeit mit dem Ortsmuseum am 1. Juli 2021 ihm zu Ehren eine Gedenkstele im neugestalteten Radolfzellerpark.
Die Stele – eine Gedenktafel auf der Skulptur „Einschnitte“ des Amriswiler Künstlers Helmut Giselbrecht – wurde bereits im Jahr 2016 geschaffen und stand vorher im Ortsmuseum. Dort, wo im September desselben Jahres eine Sonderausstellung zur Würdigung Ernst Prodolliets eröffnet wurde. Viele Exponate dieser Ausstellung sind mittlerweile in die Dauerausstellung übergegangen, sodass sich im Ortsmuseum informieren kann, wer mehr über Ernst Prodolliet erfahren möchte. Das Museum ist bei freiem Eintritt an jedem ersten Sonntag im Monat (ausser Januar und August) von 14–17 Uhr geöffnet.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Ortsmuseum Amriswil
Simone Prodolliet: Ein Gebot von Anstand und Redlichkeit. Ernst Prodolliet (1905 –1984), in: Kanton Luzern (Hg.): Menschen mit Zivilcourage, Luzern 2015, S. 83-92
Stefan Keller: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe, Zürich (5. nachgeführte Auflage 2013, Originalausgabe 1993), S. 77-82
Jörg Krummenacher: Flüchtiges Glück – Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005
In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)