Ausflüge gegen das Vergessen (34): Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau
Um die 13 Millionen zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge verschleppte das NS-Regime ab 1939 aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich. Um den rasant steigenden Arbeitskräftebedarf der deutschen Kriegswirtschaft zu decken, mussten die „fremdvölkischen Untermenschen“ unter den Augen der deutschen Zivilbevölkerung Zwangsarbeit verrichten. Seit Ende Januar 2021 erinnert in Lindau eine Gedenkstele an das Schicksal der dorthin verschleppten und ausgebeuteten Frauen, Männer und Kinder.
Aus der Heimat verschleppt, ausgebeutet und gedemütigt
Alle von der deutschen Wehrmacht überfallenen Länder wurden ab 1939 vom NS-Regime als Arbeitskräftereservoir für das Reich genutzt. Vor allem nach dem Scheitern der „Blitzkrieg“-Strategie und der Proklamation des „totalen Kriegs“ war die Kriegswirtschaft angesichts der Einberufung fast aller deutschen Männer nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte aufrecht zu erhalten. Rüstungsunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch Bauern und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit.
Allein im Stadtgebiet Lindau mussten ab September 1939 bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes rund 770 Menschen Zwangsarbeit verrichten – verschleppt aus Polen, Frankreich, der Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechien, Italien, Ungarn, Belgien, den Niederlanden und Griechenland. Sie arbeiteten für die lokalen Firmen und Werken von Dornier, Escher Wyss, Elektra, Egger, Volta, Wankel, die Reichsbahn oder waren in der Landwirtschaft eingesetzt.
Mehrere Lager wurden für die ZwangsarbeiterInnen errichtet. Kurz vor Kriegsende kamen auch die Schiffe „Augsburg“ und „Kempten“ im Lindauer Hafen als schwimmende Nachtlager für ZwangsarbeiterInnen hinzu. Das flächenmäßig größte Lager betrieb die Stadt Lindau zusammen mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Reichsbahn östlich der Kamelbuckelbrücke. Es war mit Stacheldraht umzäunt und wurde von bewaffneten Männern bewacht. Nur zur Arbeit durften die dort eingepferchten Menschen die Enge ihrer Baracken verlassen. Neben scharfen Verhaltensvorschriften waren besonders die sogenannten Ostarbeiter permanenten Demütigungen unterworfen.
„Wer das deutsche Blut besudelt …“
Die rassistische Atmosphäre gibt ein Artikel des Lindauer Tagblatts vom 19. Mai 1943 wider: „Die Kriegsverhältnisse bringen es mit sich, dass auch im Kreis Lindau gegenwärtig zahlreiche Fremdarbeiter in der Wirtschaft beschäftigt werden. Diese Fremdarbeiter sind nicht unseres Blutes und unserer Art. […] Mit den Ostarbeitern haben wir nichts gemeinsam, und Gefühlsduselei würde als Unsicherheit und Schwäche ausgelegt. […] Das schwerste Vergehen aber, was es als Sünde wider das Blut geben kann, ist der Verkehr zwischen Deutschen und Ostarbeitern. […] Auch die Treue zum Blut ist das Mark unserer Ehre: Wer das deutsche Blut besudelt, schaltet sich selbst aus der Volksgemeinschaft aus.“
Der junge Pole Iwan Bacić war einer jener ZwangsarbeiterInnen, die den Einsatz in Lindau nicht überlebten. Im Alter von 16 Jahren kam er mit einem „Polentransport“ in den Ort, wo er – halb verhungert und daher kaum arbeitstauglich – auf einem Obstbauernhof als Landarbeiter eingesetzt war. Wohl aufgrund einer Denunziation verhaftete ihn die Gestapo im Herbst 1944 wegen seines angeblichen Verhältnisses mit einer deutschen Magd. Ein ordentliches Gerichtsverfahren zur Feststellung von Iwans Schuld, das die Notlüge der Frau zutage hätte bringen können, fand nicht statt. Am Klosterweiher im Bereich des heutigen Golfplatzes Schönbühl wurde er am 27. Oktober 1944 von Lindauer NS-Schergen erhängt. Zwangarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der umliegenden Bauernhöfe und die Bauern wurden von der NSDAP-Leitung angewiesen, der Hinrichtung am Schönbühl beizuwohnen. Eine schlichte Gedenktafel neben dem 1950 errichteten Obelisken auf dem Massengrab für die „Opfer der Jahre 1943/44“ im Gräberfeld P auf dem Friedhof Lindau-Aeschach erinnert an den jungen Iwan Bacić.
Die Gräber von zehn weiteren Frauen und Männern, die die Zwangsarbeit in Lindau nicht überlebten, befinden sich in Friedrichshafen. ZwangsarbeiterInnen aus der Sowjetunion und Polen („Ostarbeiter“) wurden dort ab 1942 aus rassistischen Gründen auf einem Wiesengelände außerhalb des Städtischen Hauptfriedhofs beigesetzt. Erst seit 1950 ist die Wiese durch eine Norderweiterung des Friedhofs als „Ehrenfeld 32“ in die Friedhofsanlage einbezogen. Neben den 116 in Friedrichshafen verstorbenen ZwangsarbeiterInnen entstand durch die Umbettung von weiteren Toten aus insgesamt 60 Gemeinden Südbadens, Südwürttembergs und des Kreises Lindau im Auftrag der Sowjetunion dieses Ehrenfeld.
In Lindau wächst kein Gras mehr über die Geschichte
Bereits im Jahr 2010 veröffentlichte der Lindauer Lokalhistoriker Karl „Charly“ Schweizer das Buch „Lindauer Gedenkweg – Verfolgung und Widerstand 1933–1945“ , das zu 28 Stationen der Nazi-Verfolgung und des Widerstandes durch seine Heimatstadt führt: Vom Hafen, einst das „Freiheitstor“ in die Schweiz, über ehemals jüdische Kaufhäuser und ZwangsarbeiterInnenlager vor den Toren der Stadt bis zum ehemaligen Gestapohaus reichen die Anlaufziele des Lindauer Gedenkweges. Herausgeberin war die Stadt Lindau.
Die Beschäftigung mit dem Thema Zwangsarbeit riss damit aber nicht ab. Karl Schweizer sammelte in jahrelanger Recherche weiter Fotos und Texte, viele von ihnen veröffentlicht in seinem „Digitalen Geschichtsbuch“, zum Thema im nationalsozialistischen Lindau. Und nachdem im Jahr 2017 der Bau einer Therme in der Nähe des früheren Zwangsarbeitslager Kamelbuckel projektiert worden war, kam die Forderung nach einer würdevollen, informativen Gedenktafel im Gedenken an die dort versklavten Menschen auf.
Am 27. Januar 2021 – am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – erfolgte die Einweihung der Gedenksäule, die die Stadt Lindau zusammen mit dem Kulturamt in der Eichwaldstraße errichten ließ. Texte von Schweizer, historische Fotos und Dokumente erlauben seither PassantInnen, sich mit der Geschichte des Ortes und dem Schicksal der dorthin verschleppten und gedemütigten Menschen auseinanderzusetzen. Für vertiefende Informationen kann per QR-Code direkt vor Ort der Downlaod des „Lindauer Gedenkweg – Verfolgung und Widerstand 1933-1945“ abgerufen werden.
In Konstanz hingegen, der größten Stadt am Bodensee, ist noch nicht einmal damit begonnen worden, sich mit dem Thema Zwangsarbeit auseinander zu setzen.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Schweizer, Karl: Lindauer Gedenkweg – Verfolgung und Widerstand 1933-1945, Lindau 2010
Schweizer, Karl: Verfolgung, Flucht und Widerstand im Landkreis Lindau 1933—1945, Lindau 2016
Schweizer, Karl: Edition-Inseltor-Lindau – Digitales Geschichtsbuch
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
[the_ad id=“82653″]
In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)