Ausflüge gegen das Vergessen (12): Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch

Städte und Gemeinden schmücken sich gern mit ihren berühmten Söhnen und Töchtern. Was aber, wenn einer ihrer Bürger für ein Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes – die Ermordung von über 138.000 Jüdinnen und Juden in Litauen – verantwortlich war? Das südbadische Waldkirch im Breisgau hat diese Frage auf Initiative der „Ideenwerkstatt Waldkirch im NS-Staat” mit der Errichtung einer Gedenkstätte beantwortet, die Tat und Täter in Erinnerung bringt.

Der Massenmord an Jüdinnen und Juden in Litauen ist untrennbar mit dem Namen Karl Jäger verbunden, einem früher hochangesehenen Bürger der Stadt Waldkirch. „Jäger-Bericht” heißt daher auch die akribische Gesamtaufstellung der in Litauen bis zum 1. Dezember 1941 durchgeführten Exekutionen, die der SS-Standartenführer Jäger, Chef des Einsatzkommandos (EK) 3, für einen Bericht an die SS-Zentrale in Berlin erstellte. Seine Zusammenfassung begann mit den Worten: „Ich kann heute feststellen, dass das Ziel, die Judenfrage zu lösen, vom EK3 erreicht worden ist. In Litauen gibt es keine Juden mehr, außer den Arbeitsjuden incl. ihrer Familien.“

Karl Jäger, der Massenmörder aus Waldkirch

Infotafel an der Gedenkstätte in Waldkirch

Karl Jäger (1888–1959) war drei Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Waldkirch zog. Er spielte mehrere Musikinstrumente, erlernte Orchestrionbau und wurde durch Heirat Mitinhaber und Prokurist einer Orchestrion-Fabrik in Waldkirch. Aus vierjährigem Kriegsdienst kehrte er 1918 mit der tiefen Überzeugung nach Waldkirch zurück, dass die sogenannten Novemberverbrecher das Vaterland verraten und der Diktatfrieden von Versailles nur ein vorübergehender Zustand sein könne. Als erklärter Verächter der Weimarer Republik schloss sich Jäger der illegalen Schwarzen Reichswehr an, einer paramilitärischen, rechtsradikalen, antisemitischen Organisation. 1923 gründete er, den man im „Städtle” damals auch den „Waldkircher Hitler” nannte, dort eine NSDAP-Ortsgruppe und Anfang der 1930er Jahre eine SS-Gruppe. 1936 wurde er – im Zuge der Weltwirtschaftskrise arbeitslos geworden – hauptamtlicher SS-Sturmführer. In den folgenden Jahren arbeitete er im Reichssicherheitshauptamt sowie für andere SS-Organisationen und stieg bis 1940 zum Standartenführer auf.
Im Juni 1941 wurde Jäger zum Führer des Einsatzkommandos 3 ernannt, das mit Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Verband der Einsatzgruppe A im Raum Litauen eingesetzt wurde. Unmittelbar danach begann diese Terror- und Tötungseinheit mit Dienstsitz in Kaunas unter seinem Befehl mit den Massenerschießungen, die innerhalb weniger Monate – von Ende Juni 1941 bis Ende Januar 1942 – fast die gesamte jüdische Bevölkerung Litauens auslöschte und darüber hinaus tausende aus Mitteleuropa, unter anderem aus Berlin und München, deportierte Jüdinnen und Juden.
Karl Jäger führte akkurat Buch und meldete am 9. Februar 1942 seiner vorgesetzten Dienstelle folgende Exekutionen: „A: Juden 136.421, B: Kommunisten 1064, C: Partisanen 56, D: Geisteskranke 653, E: Polen 44, russische Kriegsgefangene 28, Zigeuner 5, Armenier 1. Gesamtzahl: 138.272, davon Frauen 55.556, Kinder 34.464.” Der für seine „Verdienste” hochdekorierte Nazi-Scherge lebte nach Kriegsende – ohne seinen Namen zu verschleiern – viele Jahre in der Nähe von Freiburg und wurde erst im April 1959 identifiziert und verhaftet. Während der Untersuchungshaft auf dem Hohenasperg erhängte er sich am 22. Juni 1959. Was nicht als Schuldanerkenntnis interpretiert werden sollte: Jäger beharrte in seinen Aussagen stets darauf, nur „seine Pflicht” getan zu haben.

Ideenwerkstatt Waldkirch im NS-Staat: Vom Bohren harter Bretter

Als vor circa 30 Jahren die Erkenntnisse über Karl Jägers Verantwortung für den Holocaust in Litauen bekannt und das große Schweigen der MitwisserInnen durchbrochen wurde, gab es in Waldkirch zunächst kaum Bereitschaft, sich mit diesem dunklen Kapitel der Vergangenheit auseinander zu setzen. Auch heftige Abwehrreaktionen waren zu verzeichnen. Nachdem aber der im Ort lebende Historiker Professor Wolfram Wette nach 20-jähriger Forschung im Jahr 2011 die Ergebnisse seiner Arbeit unter dem Titel „Karl Jäger, Mörder der litauischen Juden“ veröffentlichte, fragten sich immer mehr Menschen: Wie gehen wir damit um, dass der Name unserer Stadt Waldkirch mit einer Untat unvorstellbaren Ausmaßes in Verbindung steht?

Detail Infotafel: Handschriftliche Exekutionsmeldung Jägers aus Kauen (Kaunas) vom 9. Februar 1942

Seitdem ist viel geschehen, auch wenn dafür viele Widerstände überwunden und „harte Bretter“ gebohrt werden mussten, wie Wolfram Wette im Interview mit freie-radios.net berichtet. Aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative heraus entstand die Ideenwerkstatt „Waldkirch in der NS-Zeit”, die ihre zentrale Aufgabe darin sah, nach einer würdigen Form der Erinnerung an die Judenmorde in Litauen zu suchen. Sie initiierte Schulprojekte, setzte sich mit unterschiedlichen NS-Themen auseinander und organisierte Informationsveranstaltungen. In Günzburg, der Heimatstadt des berüchtigten KZ-Arztes von Auschwitz Josef Mengele, in der bereits eine Gedenkstätte an dessen Taten erinnert, konnten Erfahrungen zu diesem schwierigen Thema eingeholt werden. Auch im Land der Opfer wurde geforscht: Im Jahr 2016 fuhren 14 Mitglieder der Projektgruppe mit dem Filmemacher Jürgen Dettling nach Litauen, besuchten historische Orte und Gedenkstätten und führten lange Gespräche mit Zeitzeugen. Der dabei entstandene 90-minütige Film „Karl Jäger und wir“ wurde im November 2016 in Waldkirch uraufgeführt.

Waldkirch übernimmt die Verantwortung für notwendige Erinnerung

Am 27. Januar 2017 konnte schließlich die Gedenkstätte in Waldkirch enthüllt werden. Sie befindet sich zwischen der katholischen Kirche Sankt Margarethen und dem Elztal-Museum und besteht aus fünf Basaltstelen und einer Informationstafel mit einer Faksimile-Reproduktion der handschriftlichen Meldung von Karl Jäger vom 9. Februar 1942, auf der er die Summe der bis dahin ermordeten Menschen mitteilt: „Gesamtzahl: 138 272, davon Frauen 55 556, Kinder 34 464.” Ein in fünf Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Litauisch und Hebräisch) verfasster Text erläutert die Hintergründe.

Text der Waldkircher Dichterin Eva-Maria Berg an der Gedenkstätte

„Dadurch übernehmen wir Verantwortung”, sagte Wolfram Wette bei der Einweihung der Gedenkstätte, „zwar nicht für dessen Taten, aber für die Erinnerung an diese. Wir verbinden diese Verantwortung mit der Bekräftigung unseres Willens, nie wieder Vergleichbares geschehen zu lassen. Darin sehen wir die zentrale Lehre aus der Geschichte von Krieg und Holocaust. […] Mit der Enthüllung des Mahnmals für die ermordeten Juden Litauens setzt die Stadt Waldkirch ein Zeichen. […] Wir erinnern uns aus eigenem Antrieb und aus eigener Entscheidung öffentlich daran, dass ein Mann aus dieser Stadt in der Zeit des Zweiten Weltkrieges einer der Haupttäter des Holocaust war. Wir wollen die belastenden historischen Fakten nicht mehr verdrängen, sondern ihnen ins Gesicht sehen und sie als eine Mahnung akzeptieren. Zugleich enthält das Mahnmal eine Botschaft, die in die Zukunft gerichtet ist. Sie lautet: Als Lehre aus der Vergangenheit bekräftigen wir unseren Willen, uns stets gegen Gewalt und Rassismus und für eine humane Orientierung einzusetzen.”

Wo andernorts vielfach noch immer (oder: wieder) das Bedürfnis nach Verdrängung, Verleugnung und Beschönigung die gesellschaftliche Befindlichkeit prägt und nach einem „Schlussstrich” verlangt wird, stellt sich die 20.000-EinwohnerInnenstadt Waldkirch ganz gezielt der Aufklärung. Tätererinnerung als Mahnung an künftige Generationen. Das sollte Schule machen.

Sabine Bade (Text und Fotos)


Vertiefende Informationen:

Wolfram Wette: Karl Jäger: SS-Standartenführer Karl Jäger. Musiker und Mörder der litauischen Juden, In: Täter, Helfer, Trittbrettfahrer, Band 6: NS-Belastete aus Südbaden, 2017, S. 190-209
Karl Jäger und wir (Film)
Interview mit Wolfram Wette auf freie-radios.net, 27.01.2017
Rede Wolfram Wettes anlässlich der Einweihung der Gedenkstätte, In: Kontext Wochenzeitung
Wolfram Wette (Hg.): „Hier war doch nichts!“ – Waldkirch im Nationalsozialismus, Band 5 der Reihe Waldkircher Stadtgeschichte, 2019
Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, 2011

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)