Ausflüge gegen das Vergessen (19): Auf den Heuberg
Kaum war die Machtübergabe an die Nationalsozialisten erfolgt, richteten sie Mitte März 1933 das Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb ein. In diesem ersten KZ in Württemberg waren zeitweilig über 2000 Oppositionelle – Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, unter ihnen auch Kurt Schumacher und Fritz Bauer – inhaftiert. Ohne richterlichen Haftbefehl oder ordentliches Strafverfahren in „Schutzhaft“ genommen, waren die Männer perversen Demütigungen, Willkür und Gewalt ausgeliefert.
Das KZ Heuberg, eines der frühen NS-Konzentrationslager
Als nach den großen Verhaftungswellen, mit der die Nazis ab Ende Februar 1933 ihre GegnerInnen verfolgten, die Gefängnisse völlig überfüllt waren, erteilte NS-Reichskommissar Dietrich von Jagow dem Stuttgarter Polizeipräsidenten Rudolf Klaiber Mitte März 1933 den Auftrag, für Württemberg-Hohenzollern ein KZ für politische Gefangene einzurichten. Eines der vielen Konzentrationslager, die das NS-Regime ab diesem Zeitpunkt überall in Deutschland zur Ausschaltung seiner politischen und weltanschaulichen GegnerInnen errichten ließ. Die juristische Grundlage war der nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ausgerufene Staatsnotstand und die am Tag danach erlassene „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“.
Klaiber wählte als Standort das Areal des Truppenübungsplatzes Heuberg bei Stetten am kalten Markt, das nach militärischer Nutzung (1914 bis 1919) dem Verein Kindererholungsfürsorge Heuberg e.V. zur Verfügung stand.
Das Lager blieb dem Stuttgarter Polizeipräsidium unterstellt und war damit eine staatliche Einrichtung des Innenministeriums. Die Bewachung lag in der Hand der Schutzpolizei und der als Hilfspolizisten rekrutierten SA-Männer.
Der Sozialdemokrat und Mitgründer des Republikanischen Richterbundes in Württemberg, Fritz Bauer, der später als hessischer Generalstaatsanwalt den Auschwitz-Prozess erstritt, wurde am 23. März 1933 aus seinem Amtszimmer im Stuttgarter Amtsgericht abgeführt und in das KZ Heuberg gebracht. Kurt Schumacher, später Parteivorsitzender der SPD, teilte dieses Schicksal ab 6. Juli 1933 ebenso wie auch nahezu die komplette obere und mittlere Funktionärsebene der KPD in Württemberg und Baden, Landtags- und Reichstagsabgeordnete, weitere Sozialdemokraten und auch Mitglieder anderer Parteien.
Perverse Demütigungen, Willkür und brutale Gewalt als Lageralltag
„Die Gefangenen wurden auf dem Speicher, der ‚Schlagzeile‘, mit Holzprügeln und Koppelriemen bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen, mit Polizeistiefeln getreten, die Treppen hinauf und hinunter gehetzt und im Hof gefoltert. Drohungen mit dem Tod durch Erschießen führten zu Nervenzusammenbrüchen und zu irreversiblen psychischen Schäden. Hinzu kam die ständige Erniedrigung der Häftlinge, die den Fliegendreck an den Flurfenstern mit Zeitungspapier herauskratzen oder die Treppen mit dem Kopf nach unten reinigen mussten, die nach Beendigung der Arbeit durch einen Eimer Schmutzwasser wieder verdreckt wurden. Einigen Häftlingen wurde beim Abrasieren ihrer Haare ein Hakenkreuz stehen gelassen. Die Gewalt war willkürlich und selten einer konkreten Tat vonseiten der Häftlinge zuzuordnen. […] Auf dem Heuberg war der Tod der Häftlinge kein direktes Ziel, auch wenn täglich damit gedroht wurde. Misshandlungen wurden in der Regel gestoppt, bevor sie zum Tode führten“. So beschreibt der Historiker Markus Kienle die zum Lageralltag unter SA-Führer Karl Gustav Wilhelm Buck gehörenden Misshandlungen.
Eine Reihe von Todesfällen auf dem Heuberg – wie der von Hermann Wißmann, der am 8. April 1933 im Alter von nur 31 Jahren an Herzversagen starb – ist bis heute ungeklärt. Der Mord an dem Kommunisten Salomon Leibowitsch ist jedoch belegt: Nach seiner Einlieferung in das KZ Heuberg am 8. September 1933 wurde er noch gleichtags bestialisch gefoltert und einen Tag später von zwei SA-Männern an den Füßen die Treppe herunter nach unten geschleift, wobei sein Kopf ständig auf Treppenstufen schlug, was Leibowitsch nicht überlebte.
Das KZ Heuberg bestand nur wenige Monate. Da die Reichswehr (ab 1935 als Wehrmacht bezeichnet) das Areal für ihre Zwecke beanspruchte, verlegte man die Häftlinge zwischen November und Dezember 1933 in das KZ Oberer Kuhberg in Ulm und die Konzentrationslager Ankenbuck und Kislau.
Heuberg als Ausbildungslager für „Wehrunwürdige“
Nach Schließung des KZ wurde das Heuberg-Areal militärisch genutzt, unter anderem als Aufstellungsort diverser Verbände von Wehrmacht und Waffen-SS. Ab Oktober 1942 diente das Gelände als Ausbildungslager für das „Strafbataillon 999“, in dem „Wehrunwürdige“ zusammengefasst wurden. Davor galten gemäß NS-Gesetzgebung Männer, die jemals zu einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe – ob wegen einer Straftat oder antifaschistischer „staatsfeindlicher Betätigung“ – verurteilt worden waren, als „wehrunwürdig“. Angesichts des verlustreichen Kriegsverlaufs und dem damit steigenden Bedarf an Soldaten revidierte das Oberkommando der Wehrmacht im Herbst 1942 diese Haltung und zwangsrekrutierte nun auch diese Männer. Ihre Ausbildung auf dem Heuberg erfolgte unter verschärften, vielfach unmenschlichen Bedingungen. Hinrichtungen wegen Lappalien dienten der Abschreckung. Danach wurden die Männer als Kanonenfutter an die Front geschickt. Einer, der diesen Einsatz überlebte, war Wolfgang Abendroth, in den 1960er Jahren wohl der einzige bundesdeutsche Hochschullehrer, der sich zum Marxismus als wissenschaftlicher Methode bekannte. 1937 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ – sprich: Widerstand gegen das NS-Regime – zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde er Anfang 1943 als „Bewährungssoldat“ zwangsrekrutiert und nach der Ausbildung auf dem Heuberg an die Front geschickt, zuerst in die Nähe von Skopje, dann nach Griechenland, in die Nähe des Olymps, schließlich auf die Ägäis-Insel Lemnos. Wo er sich dem Widerstand der griechischen Volksbefreiungsarmee anschloss. „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“ nannte ihn Jürgen Habermas, der sich bei Abendroth habilitierte.
Gedenkstätten am Truppenübungsplatz Heuberg
Noch heute wird das Areal des ehemaligen KZ militärisch genutzt, als Truppenübungsplatz und Bundeswehrstandort. Am Rand des Truppenübungsplatzes – und damit öffentlich zugänglich – erinnert nur eine kleine Gedenkstätte neben der Dreitritten-Kapelle an das frühere KZ. Sie wurde im Auftrag des SPD-Landesverbandes Baden-Württemberg von dem Bildhauer Reinhard Bambsch gestaltet und im Juli 1983 zum 50. Jahrestag der Verhaftung von Kurt Schumacher eingeweiht.
Nur einige hundert Meter davon entfernt hat die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Baden-Württemberg im Herbst 1986 auf dem „Russenfriedhof“ einen flachen, liegenden Gedenkstein zur Erinnerung an die Soldaten der „999er“ eingeweiht: „Den erschossenen und gefallenen Antifaschisten der Bewährungsbataillone 999“.
Nicht zugänglich hingegen ist der Stolperstein, den Gunter Demnig auf Wunsch des Kommandeurs des Truppenübungsplatzes Anfang November 2019 – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, nicht aber vieler PressevertreterInnen – für Salomon Leibowitsch verlegte, der am 9. September 1933 im KZ Heuberg ermordet wurde.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Eduard Stürmer: Ortung – Vermessung eines Militärstandorts (Radiofeature 2014)
Stolperstein-Biografie Hermann Wissmann
Elisabeth Abendroth: „Wolfgang Abendroth im Widerstand gegen Hitler“, 2016
Wolfgang Benz (Hg.): „Der Ort des Terrors – Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Band II“, München 2005
Markus Kienle: „Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt“, Ulm 1998
Hans-Peter Klausch: „Die 999er – Von der Brigade ‚Z‘ zur Afrika-Division 999: Die Bewährungsbataillone und ihr Anteil am antifaschistischen Widerstand“, Frankfurt a.M. 1985
Ronen Steinke: „Fritz Bauer – oder Auschwitz vor Gericht“, München 2013
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)