Ausflüge gegen das Vergessen (21): Das „Gräberfeld X“ in Tübingen

Im „Gräberfeld X“, einem Massengrab auf dem Tübinger Stadtfriedhof, wurden zwischen 1933 und 1945 die Überreste von über 1100 Menschen verscharrt, nachdem sie zuvor im Anatomischen Institut der Universität bei Präparierkursen, Chirurgischen Operationskursen und als Sammlungspräparate zur anatomischen Ausbildung künftiger Mediziner gedient hatten. Über die Hälfte der Toten waren Opfer der NS-Gewaltherrschaft, darunter viele aktive Regime-GegnerInnen.

Von 1849 bis 1963 diente das Areal in der südöstlichen Ecke des Stadtfriedhofs als Abteilung für Tote, die der Anatomie der Universität zu Forschungs- und Lehrzwecken gedient hatten, vor allem SelbstmörderInnen und Hingerichtete, aber auch sogenannte Armenleichen, bei denen die Beerdigungskosten öffentliche Stellen hätten zahlen müssen. Unter dem Nazi-Regime entwickelte sich das „Gräberfeld X“ zu einer diskreten Entsorgungsstelle von NS-Opfern.

Endstation im nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm

Eine der sechs Namenstafeln

„Jahrzehntelang hatten sich die Tübinger Anatomen Sorgen um eine ausreichende Lieferung von Leichen gemacht. Nach 1933 war dieses Problem gelöst. Bedenkenlos akzeptierten die Wissenschaftler, dass sie ihren plötzlichen Überschuss an Lehr- und Forschungsmaterial Gewaltakten des NS-Regimes zu verdanken hatten“, konstatierte die Historikerin Benigna Schönhagen 1987. Über die Hälfte der Leichen, die die Nazis dem Anatomischen Institut der Universität zur Verfügung stellten, waren nach bisherigem Kenntnisstand Opfer des Regimes. Sie starben – erschossen, geköpft, erschlagen, verhungert oder durch Arbeit vernichtet – in Kriegsgefangenenlagern und -lazaretten, in Gefängnissen, Landesfürsorge- und Heilanstalten, in Arbeitserziehungslagern und Folterzellen der Gestapo.

Zwischen 1942 und August 1944 bezog die Tübinger Anatomie darüberhinaus 81 Leichen von Menschen, die im Lichthof des Stuttgarter Justizgebäudes, der zentralen Hinrichtungsstätte im deutschen Südwesten, enthauptet worden waren. Vom NS-Volksgerichtshof, einem der NS-Sondergerichte oder dem Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart zum Tode verurteilt, starben sie dort unter dem Fallbeil.

Informationsgedenktafel am Eingang zum Gräberfeld

Darunter waren Menschen wie Eugen Sigrist und Daniel Seizinger, die in der Mannheimer Widerstandsgruppe um den ehemaligen badischen KPD-Landtagsabgeordneten Georg Lechleiter aktiv gewesen waren und denen das Verteilen einer oppositionellen Untergrundzeitung zum Verhängnis geworden war. Auch Menschen wie der Arbeiter Leo Bohnenstengel gehörten dazu, der vom Strafsenat des OLG Stuttgart unter dem Vorsitz von Hermann Cuhorst am 27. November 1941 in Konstanz wegen Zersetzung der Wehrkraft, Vorbereitung zum Hochverrat und Rundfunkverbrechens zum Tode verurteilt worden war, obwohl die Anklage gegen ihn allein auf der Denunziation eines Soldaten gründete. Oder Menschen wie Georg Viktor Kunz, der im Elsass Widerstand gegen die deutschen Besatzer organisierte. Vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, starb auch er am 17. August 1943 unter dem Fallbeil. Dass wir mehr über ihn wissen, seine Geschichte kennen, ist seiner Urenkelin Carmen Eckhardt zu verdanken. Die Dokumentarfilmerin hat fast vier Jahre lang recherchiert und die Geschichte ihres Urgroßvaters aufgearbeitet. Ihr beeindruckender Film „Viktors Kopf“, zu dem es auch ein Radiofeature gibt, führt durch deutsche Amtsstuben und Gerichte, in Archive und Museen, auch in das anatomische Institut der Universität Tübingen und zum „Gräberfeld X“, wo er – allerdings unter verkehrtem Namen – verscharrt wurde.

Umgang mit einem der Orte, die die Verflechtung der Universität mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aufzeigen

Die Gräberfelder des Tübinger Stadtfriedhofs (Skizze aus Schönhagen, 1987)

Nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes waren Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) die einzigen, die sich für eine Gedenkstätte am „Gräberfeld X“ einsetzten. Ihrem Drängen ist es zu verdanken, dass die Stadt Tübingen 1952 ein Gedenkzeichen an diesem Massengrab errichten ließ. Wenn auch dessen unverbindliche Gestaltung – drei Steinkreuze nach dem Vorbild des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, darauf die Zahlen „1939–1945“ – keinen Aufschluss darüber gibt, wer in diesem Gräberfeld bestattet wurde und jeden Verweis auf die Herrschaft des Nationalsozialismus ausspart. Überaus vage ist auch die Inschrift der Gedenkplatte, die seit 1960 vor den drei Kreuzen liegt: „Hier ruhen einige hundert Menschen verschiedener Völker, die in Lagern und Anstalten unseres Landes einen gewaltsamen Tod fanden“.

Seit Juni 2019 steht am Eingang zum Gräberfeld X neben der Informationstafel das Namensbuch

An jedem Volkstrauertag wurde zwar dort ebenso ein Kranz niedergelegt wie an den Kriegerdenkmalen, ansonsten geriet das „Gräberfeld X“ aber weitgehend in Vergessenheit. Ganz im Sinne von Stadtverwaltung und Universitätsleitung, die von lang anhaltenden Amtskontinuitäten geprägt waren. Das änderte sich erst, als Mitglieder der VVN-BdA im Februar 1980 eine im Rahmen von grabpflegerischen Maßnahmen achtlos stehengelassene Planierraupe entdeckten und eine spontane Mahnwache organisierten. „Lässt die Stadt Tübingen Massengrab von Opfern des Faschismus einebnen?“, stand auf ihrem Flublatt. Begleitet von einer breiten öffentlichen Diskussion beschloss der Gemeinderat im Juni 1980 daraufhin, sechs Bodenplatten mit den Namen der – damals bekannten – 518 NS-Opfer anzubringen. Die Fragen nach den politischen Vorgängen, die zu ihrem Tod geführt haben, nach den persönlichen Schicksalen, die sich hinter diesen Namen verbergen, sowie nach der Verflechtung der Universität mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik blieben damit allerdings noch immer unbeantwortet.
Aber zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 bezog die Stadt Tübingen erstmals das Massengrab in das offizielle Gedenken mit ein und beauftragte anschließend die Historikerin Benigna Schönhagen mit der wissenschaftlichen Untersuchung des „Gräberfelds X“. Ihre 1987 veröffentlichte Studie und die daraus resultierende breite öffentliche Diskussion zwang die Universität zur Überprüfung sämtlicher anatomischer Sammlungen: Funde, bei denen nicht ausgeschlossen werden konnte, dass es sich bei ihnen um Überreste von Gewaltopfern des nationalsozialistischen Regimes handelt, wurden im Juli 1990 auf dem Gräberfeld bestattet; zudem brachte man eine Gedenktafel an.

Schönhagens Studie diente auch als Grundlage für die Texte der Informationstafel, die seit 1993 am Eingang zum „Gräberfeld X“ steht. Damit wurde an dieser Gedenkstätte erstmals der Zusammenhang der dort bestatteten Opfer mit Forschung und Lehre des anatomischen Instituts hergestellt.

Es gibt noch viel zu tun

Knapp dreißig Jahre später steht eine wissenschaftliche Aufarbeitung auf Basis mittlerweile zugänglicher Quellen aber nach wie vor aus. Erst im Juni 2019 wurde die Gedenkstätte um ein zunächst provisorisches Gedenkbuch erweitert. Es nennt bisher identifizierte vergessene Opfer und korrigiert falsch geschriebene Namen. Das Stadtarchiv und die Universität Tübingen planen, die Geschichte des Gräberfeldes X weiter aufzuarbeiten und die Schicksale der dort bestatteten Menschen zu ergründen. Es ist zu hoffen, dass diese Planungen auch zügig umgesetzt werden.

Randnotiz:
Wer den Stadtfriedhof in Tübingen besucht, findet dort auch die Gräber von Hans Gmelin und Gottlob Scheef, beides ehemalige Oberbürgermeister von Tübingen, denen die Ehrenbürgerwürde mittlerweile aberkannt wurde. Auch das Grab von Kurt Georg Kiesinger liegt auf dem Stadtfriedhof. Der frühere baden-württembergische Ministerpräsident hatte dafür gesorgt, dass weder die Mitgliedschaft bei Sondergerichten noch die Mitwirkung an Todesurteilen nach Ende der NS-Terrorherrschaft Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen oder dienstrechtlichen Maßnahmen gegen Richter und Beamte gab.

Sabine Bade (Text und Fotos)


Vertiefende Informationen:

Benigna Schönhagen: Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof
Carmen Eckhardt: Viktors Kopf, Hörspiel 44 min.
Hermann G. Abmayr: Tod durchs Fallbeil
Sabrina Müller: Kurze Prozesse und Unrechtsurteile
Benigna Schönhagen: Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)