Ausflüge gegen das Vergessen (25): Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm
Das Konzentrationslager Oberer Kuhberg war eines jener frühen Lager, die die Nazis – kaum war ihnen die Macht übertragen worden – bereits 1933 überall in Deutschland zur sofortigen Ausschaltung ihrer politischen und weltanschaulichen GegnerInnen errichten ließen. Obwohl es das einzige dieser frühen KZ in Süddeutschland ist, dessen Gebäude und Gelände weitgehend unverändert erhalten blieb, bedurfte es jahrzehntelanger Bemühungen vor allem der Lagergemeinschaft Heuberg-Kuhberg-Welzheim, die weit verbreitete Schlussstrichmentalität zu durchbrechen und eine beeindruckende Gedenkstätte zu schaffen.
Vom Heuberg auf den Oberen Kuhberg
Juristische Grundlage zur Ausschaltung jeglicher Opposition war der nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ausgerufene Staatsnotstand und die am Tag danach erlassene „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Sie setzte alle individuellen Grundrechte außer Kraft und ermöglichte den neuen Machthabern, überall im Land ohne richterlichen Haftbefehl oder ordentliches Strafverfahren Männer und Frauen in „Schutzhaft“, so die euphemistische Bezeichnung, zu nehmen und perversen Demütigungen, Willkür und brutaler Gewalt auszusetzen.
In Württemberg war bereits Mitte März 1933 das Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb eingerichtet worden, in dem zeitweilig über 2000 männliche Oppositionelle – Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten – inhaftiert waren. Das KZ Heuberg bestand allerdings nur für zehn Monate: Als die Reichswehr (ab 1935 als Wehrmacht bezeichnet) das Areal für ihre Zwecke beanspruchte, verlegte man zwischen November und Dezember 1933 jene Häftlinge in andere Konzentrationslager, die als unbeugsam galten; andere waren zuvor in propagandistisch ausgeschlachteten Amnestieaktionen entlassen worden. Die knapp 300 württembergischen Heuberg-Häftlinge des „harten Kerns“ – unter ihnen auch Kurt Schumacher, der spätere Parteivorsitzende der SPD – kamen um Weihnachten 1933 in das Fort Oberer Kuhberg.
Die Anlage war als Teil der zwischen 1842 und 1857 errichteten riesigen, ganz Ulm und Neu-Ulm umfassenden Bundesfestung Ulm entstanden. Zur Abwehr möglicher Angriffe aus Frankreich erbaut, war die Festung zur Stationierung von Tausenden Soldaten ausgelegt. Der Obere Kuhberg diente im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und während des Ersten Weltkriegs als Kriegsgefangenenlager. Danach stand es leer, wurde aber wohl hin und wieder wie andere Festungsteile von der illegalen „Schwarzen Reichswehr“ als Übungsgelände genutzt.
Was die Heuberg-Häftlinge dort vorfanden, beschrieb Erich Kunter so: „Am ersten Weihnachtstag 1933 wurden wir vom Heuberg in den Kuhberg nach Ulm überführt, in die unterirdischen Festungsgänge. […] Im Halbdunkel tappten wir in den Kasematten die engen Wendeltreppen hinunter, gingen durch die schmalen Gänge […], standen in den dumpfen, feuchtkalten Verließen eine Weile bedrückt und verlassen umher, wollten es nicht glauben, dass dies unsere Unterkunft sein sollte. […] Lehmboden, aus dem Grundwasser hervorsickerte, an den Decken Tropfsteingebilde, ein dumpfes und muffiges Gemäuer.“
Das KZ Oberer Kuhberg, eine Vorstufe zur Hölle
Das KZ wurde im Oktober 1933 auf Erlass des württembergischen Reichsstatthalters Wilhelm Murr eingerichtet, trug den verharmlosenden Namen „Württembergisches Schutzhaftlager Oberer Kuhberg, Ulm/Donau“ und unterstand der Württembergischen Politischen Polizei, somit dem Innenministerium des Landes Württemberg. Lagerkommandant war Karl Buck (1894-1977), der für sich später den zweifelhaften Ruhm in Anspruch nehmen konnte, der deutsche KZ-Kommandant mit der längsten Dienstkarriere gewesen zu sein: Als Beamter bei der politischen Polizei im Stuttgarter Innenministerium und dort ab etwa 1935 bis 1945 zuständig für das „Schutzhaftwesen“, leitete er nacheinander die Konzentrationslager Heuberg, Oberer Kuhberg, Welzheim und war ab 1940 Kommandant des Lagers Schirmeck-Vorbruck im Elsass.
Unter Bucks Leitung wurde Terror zum bestimmenden Merkmal des KZ-Alltags auf dem Kuhberg. Stundenlange Strafappelle und sinnlose Beschäftigung, körperliche Drangsalierungen und Schikanen, der Entzug von Essen sowie ein nur eingeschränkter Zugang zu den Latrinen standen auf der Tagesordnung. Auch perverse Demütigungsrituale, Scheinerschießungen und Folterungen waren Bestandteile des Lageralltags. „Politisch Unbelehrbare“ wie Alfred Haag (1904-1982), der bei den Wahlen vom 10. April 1932 als jüngster Abgeordneter für die KPD in den württembergischen Landtag gewählt worden war, und der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete für Stuttgart, Kurt Schumacher, saßen am Kuhberg als „Verführer“ und „Drahtzieher“ in Isolationshaft und waren besonders brutalen Schikanen unterworfen.
Dies KZ „wies – mit Ausnahme der Exekutionsstätten – bereits alle Funktionsbereiche späterer Konzentrationslager auf“, konstatiert Nicola Wenge, die wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg. Dabei waren – anders als die späteren KZ – alle frühen Lager noch nicht zur dauerhaften Inhaftierung gedacht. Etwa sechs bis zwölf Wochen dauerten diese brutalen „Umerziehungsmaßnahmen“, denen die Mehrzahl der Kuhberg-Häftlinge ausgesetzt war. Mit diesen Lagern erreichten die Nazis ihr politisches Ziel: Die politische Opposition war ausgeschaltet, zum Schweigen gebracht oder ins Ausland geflohen, und die organisierte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen. Durch Abschreckung war Widerstand bereits im Keim erstickt worden, das NS-Regime hatte seine Macht zementiert.
Bei der Schließung des Kuhbergs im Zuge der reichsweiten Zentralisierung des KZ-Systems im Juli 1935 wurden die letzten 30 von insgesamt etwa 600 Häftlingen in das KZ Dachau gebracht, unter ihnen auch Haag und Schumacher.
Der lange Kampf um die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg
Am 29. Juni 1948 gründeten ehemalige Häftlinge der drei württembergischen Konzentrationslager auf Anregung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Stuttgart die KZ-Lagergemeinschaft Heuberg-Kuhberg-Welzheim. Ihr primäres Ziel war es, die NS-Täter – vor allem den Lagerkommandanten Karl Buck, der zu dieser Zeit noch in Frankreich inhaftiert war – für seine Verbrechen in Deutschland vor Gericht zu bringen und offiziell als Verfolgte des Naziregimes anerkannt zu werden. Dass die meisten Menschen die Vergangenheit jedoch viel lieber vollkommen verdrängen wollten, betonte der ehemalige Kuhberg-Häftling Karl Sauter im selben Jahr bei einer Gedenkrede für die Opfer des Faschismus im Fort Oberer Kuhberg: „Die Ulmer aber wollen heute von diesen Dingen nichts mehr wissen, obwohl sie von 1933 bis 1935 täglich Gelegenheit gehabt hätten, die Transporte der Häftlinge durch unsere Stadt zu sehen.“ Wie recht er hatte, zeigt die Nachnutzung des ehemaligen KZ: Im Reduitgebäude des Forts, in dem während der Lagerzeit die Kommandantur mit der Lagerverwaltung untergebracht war, eröffnete im November 1947 die Wirtschaft „Zum Hochsträß“, in der auch getanzt werden konnte (sie stellte ihren Betrieb erst im November 1956 ein).
Die Lagergemeinschaft bewies langen Atem und ließ sich auch durch Rückschläge nicht beirren: So war es zwar nicht gelungen, Karl Buck, der nach seiner vorzeitigen Entlassung von 1955 bis zu seinem Tod unbehelligt in Rudersheim lebte, vor ein deutsches Gericht zu stellen. Aber ihr unermüdlicher Einsatz gegen das geschichtspolitische Klima des Vergessens und Verschweigens bewirkte, dass das Fort im Jahr 1960 unter Denkmalschutz gestellt und am Volkstrauertag neben dem Eingangstor der ehemaligen Kommandantur eine Gedenktafel angebracht werden konnte. Einen ersten Vorstoß zur Errichtung einer KZ-Gedenkstätte am Kuhberg unternahm die Lagergemeinschaft, nachdem dies gegen viele Widerstände 1965 in Dachau gelungen war. „Zur Ehrung dieser Opfer des nationalsozialistischen Terrors und zur Mahnung an die gesamte deutsche Nation erachten wir es als eine selbstverständliche Pflicht, dass auch in Baden-Württemberg eine zentrale und würdige Gedenkstätte, verbunden mit einem kleinen Museum errichtet wird.“ (Denkschrift der Lagergemeinschaft, A-DZOK. Rep. II/359).
Es dauerte aber noch einige Jahre und benötigte den von der 68er-Bewegung ausgelösten „Klimawandel“, bis sich der Forderung der Lagergemeinschaft auch einige Ulmer Bürgerinnen und Bürger anschlossen. Am 14. Februar 1971 konstituierte sich das „Kuratorium Mahn- und Gedenkstätte Oberer Kuhberg“. Zu den 25 Gründungsmitgliedern gehörten neben Alfred Hausser, Hans Gasparitsch und Alfred Haag, der die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen, den Ostfront-Einsatz als „Wehrunwürdiger“ und die anschließende Kriegsgefangenschaft überlebt hatte und nach seiner Rückkehr dem Internationalen Dachau-Komitee angehörte. Mit dabei war auch Inge Aicher-Scholl, Gründerin und Leiterin der Ulmer Volkshochschule und Schwester der 1943 hingerichteten Weiße-Rose-Mitglieder Hans und Sophie Scholl, ihr Mann Otl Aicher (der Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm entwarf später das Logo der Gedenkstätte) sowie die Ulmer und Reutlinger Oberbürgermeister.
Da ihr Vorhaben von der Landesregierung aber nicht unterstützt wurde –Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) war schließlich noch im Amt – wählten Lagergemeinschaft und Kuratorium nun einen völlig anderen Weg und gründeten 1977 den bis heute bestehenden Trägerverein Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (DZOK). Acht Jahre später konnte die Gedenkstätte Oberer Kuhberg durch bürgerschaftliches Engagement eröffnet werden.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Die Worte „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, mit denen Artikel 1 der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland beginnt, sind das erste, was BesucherInnen der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg sehen. Sie signalisieren in knalliger Leuchtschrift, dass es hier nicht nur um Vergangenheit geht, wie es auf den Seiten des Dokumentationszentrums heißt.
Die Dauerausstellung informiert über Opfer und Täter, über Haftgründe und -bedingungen und gibt Auskunft über den wandelnden Umgang mit der Örtlichkeit und der Geschichte der Gedenkstätte selbst. Zu sehen sind auch die unterirdischen Verliese und Sonderhaftzellen, der Appellplatz und die Räume der KZ-Verwaltung. Darüberhinaus dient das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg mit Archiv und Bibliothek in der Ulmer Innenstadt als Forschungs-, Lern- und Bildungszentrum, als Zentrum kritischer Information zu zeithistorischen und aktuellen Themen und als Stätte zivilgesellschaftlicher Diskussion.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm e.V., KZ-Gedenkstätte
Myrah Adams, Silvester Lechner: Auf dem Weg zum Ulmer Dokumentationszentrum: Die KZ Lagergemeinschaft Heuberg-Kuhberg-Welzheim (PDF)
Markus Kienle: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt, 1998 (PDF)
Nicola Wenge: Die Etablierung des Terrors: Frühe Verfolgung der politischen Opposition in Baden und Württemberg. Geschichte und Nachgeschichte des KZ Oberer Kuhberg Ulm, In: Peter Steinbach et al. (Hg.): Entrechtet – verfolgt – vernichtet, NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten, 2016, S. 61-96
Lina Haag: Eine Hand voll Staub, Widerstand einer Frau 1933 bis 1945 , 2004
Erich Kunter: Weltreise nach Dachau. Ein Tatsachenbericht nach den Erlebnissen des Weltreisenden und ehemaligen politischen Häftlings Max Wittmann, 1947
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)