Ausflüge gegen das Vergessen (35): Das KZ Echterdingen
Nur ein halbes Jahr vor seinem Zusammenbruch errichtete das NS-Regime im November 1944 in Echterdingen bei Stuttgart ein Konzentrationslager. 600 jüdische Männer mussten in Steinbrüchen arbeiten und Ausbesserungsarbeiten an Start-und Landebahnen des Flughafens verrichten. Während des nur zweimonatigen Bestehens des KZ starben mindestens 119 der Männer an Hunger, Kälte und Erschöpfung – sie wurden durch Arbeit vernichtet.
Jüdische KZ-Häftlinge für Reparaturarbeiten am Flughafen Stuttgart-Echterdingen
Die Organisation Todt (OT) hatte im September 1944 beim Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS (WVHA) die Überstellung von 600 KZ-Häftlingen (205 Facharbeiter, 395 Hilfsarbeiter) für Ausbesserungsarbeiten am Flughafen Stuttgart-Echterdingen beantragt. Durch die Stationierung von Nachtjägergeschwadern war der Flughafen verstärkt ins Visier der alliierten Bombardierungen geraten. Für die Wiederaufbau- und Reparaturmaßnahmen benötigte die OT – über die dort bereits ab 1941 eingesetzten Zwangsarbeiter hinaus – dringend zusätzliche Arbeitskräfte. So stellte die SS im KZ Stutthof bei Danzig am 17. November 1944 einen Transport mit 600 als arbeitsfähig klassifizierten jüdischen Häftlingen zusammen – aus Polen, Griechenland, Frankreich, Italien, aus den Niederlanden und weiteren Ländern; auch einige „Reichsdeutsche“ waren darunter. Manche hatten bereits mehrere Jahre Arbeits- und Konzentrationslager hinter sich, andere waren erst Mitte 1944 nach Auschwitz deportiert und von dort in das KZ Stutthof weitergeleitet worden. Da dort ebenfalls am 17. November 1944 ein Transport mit 600 Häftlingen für das KZ Hailfingen-Tailfingen zusammengestellt wurde, gilt es als sehr wahrscheinlich, dass der Gesamttransport insgesamt 1200 Häftlinge umfasste und der Zug in Stuttgart geteilt wurde.
Am 22. November 1944 trafen die 600 Männer im KZ Echterdingen ein.
Das Lager war verwaltungstechnisch dem zu dieser Zeit bereits längst aufgelösten KZ Natzweiler-Struthof im Elsass zugeordnet. Lagerkommandant war SS-Unterscharführer René Romann (1909–2003). Die Häftlinge wurden, bewacht von Soldaten der Luftwaffe, in einem Hangar im Südwesten des Flugplatzes untergebracht. Er war mit einem Stacheldraht-Zaun gesichert und von vier Wachtürmen umgeben.
Die Mehrzahl der Häftlinge musste in Steinbrüchen bei Bernhausen und Leinfelden arbeiten, um, so der Historiker Marco Brenneisen in seinem Buch über die südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler, „Material für ein weiteres – angesichts der Kriegslage irrsinniges – Bauprojekt abzutragen: den Bau von Verbindungsstraßen zwischen dem Flughafen und der nahe gelegenen stillgelegten Autobahn, um Kampfflugzeuge direkt auf der Autobahn starten und landen zu können.“ 19 Männer starben bereits in den ersten drei Wochen nach ihrer Ankunft an Hunger, Kälte, völliger Erschöpfung und dem Mangel an medizinischer Versorgung. Für sie stellte der Arzt des Fliegerhorstes noch Totenscheine aus, bevor sie im Esslinger Krematorium eingeäschert und im Ebershaldenfriedhof begraben wurden. Wohl aus Brennstoffmangel lehnte das Krematorium nach dem 11. Dezember 1944 weitere Kremierungen von Echterdinger Häftlingen ab. Die „Entsorgung“ weiterer Leichen – vor allem der Ausbruch von Fleckfieber hatte die Zahl der Toten in die Höhe schnellen lassen – ging formloser vonstatten: Lagerkommandant Romann ließ sich von der örtlichen Verwaltung einen Platz für ein Massengrab im abgelegenen Bernhäuser Forst zuweisen.
Das KZ Echterdingen bestand bis zum 20. Januar 1945: Das Ziel, Flugzeuge von der Autobahn aus starten zu lassen, war aufgegeben worden, sodass die Häftlinge an anderen, „kriegswichtigeren“ Orten eingesetzt werden sollten. Die meisten von ihnen wurden in das Buchenwald-Außenlager Ohrdruf bei Gotha überstellt, an Fleckfieber erkrankte Männer nach Bergen-Belsen transportiert. Bereits vorher waren schwerkranke Häftlinge in das KZ Vaihingen verlegt worden. Während des nur zweimonatigen Bestehens des KZ starben mindestens 119 der 600 Männer. Nur von insgesamt 64 der Männer ist bekannt, dass sie den Holocaust überlebten.
Cesare Terracina – von Rom über Auschwitz nach Echterdingen
Einer der Männer, die im November 1944 in Echterdingen ankamen, war der 20-jährige Cesare Terracina aus Rom. Der großen Razzia am 16. Oktober 1943 in Rom war die Familie Terracina entgangen. Mit ihr hatten Einheiten der Ordnungs- und Sicherheitspolizei unter der Leitung des eigens zu diesem Zweck angereisten „Judenreferenten”, dem aus Tübingen stammenden SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, das jüdische Ghetto „geräumt“ und danach über tausend jüdische Frauen, Männer und Kinder nach Auschwitz deportiert.
Untergetaucht in einer viel zu kleinen Wohnung an der Piazza Rosolino Pilo fielen sie aber am 7. April 1944 – nur knapp zwei Monate vor der Befreiung Roms – einer Denunziation zum Opfer: Cesare Terracina wurde am 7. April 1944 zusammen mit seinem Großvater, seinem Onkel, seinen Eltern und seinen Geschwistern Anna (*1921), Leo (*1923) und Piero (*1928) von der SS aufgespürt. Die ganze Familie wurde zunächst im „deutschen Flügel“ des römischen Gefängnisses Regina Coeli inhaftiert und danach in das Durchgangslager Fossoli verschleppt. Von dort aus erfolgte am 16. Mai 1944 ihre Deportation nach Auschwitz. Cesare sah seine Familie nie wieder. Als „arbeitsfähig“ selektiert, kam er über das KZ Stutthof bei Danzig mit dem Transport vom 22. November 1944 nach Echterdingen. Nur wenige Tage später starb er dort Anfang Dezember 1944 an völliger Entkräftung.
Von der gesamten Familie Terracina überlebte nur Cesares jüngerer Bruder Piero den Holocaust. Er wog noch 38 Kilo, als die Rote Armee Auschwitz befreite. Bis zu seinem Tod im Jahr 2019 war Piero Terracina einer der bekanntesten Zeitzeugen Italiens: Er hielt Vorträge in Schulen, Universitäten und Vereinen, sprach im Fernsehen und Radio, und trug auch zur Gründung des „Progetto Memoria“ bei. In Zusammenarbeit mit der Stiftung CDEC (Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea, Zentrum für zeitgenössische jüdische Dokumentation) und der Jüdischen Gemeinde Rom werden mit diesem Projekt die Treffen von ZeitzeugInnen mit SchülerInnen koordiniert. Und selbstverständlich war er auch dabei, als Gunter Demnig am 28. Januar 2010 in Italien die ersten Stolpersteine verlegte; sieben davon erinnern an der Piazza Rosolino Pilo an seine ermordeten Angehörigen*.
Wege der Erinnerung
Nach der Befreiung mussten ehemalige örtliche NSDAP-Mitglieder auf Befehl der US-amerikanischen Streitkräfte die im Bernhäuser Forst verscharrten 66 Leichen ausgraben. Identifizierbar waren sie nicht mehr: Die Nazis hatten das Sterberegister geschreddert. Die Bestattung fand am 29. Oktober 1945 im Beisein eines jüdischen Geistlichen auf dem Esslinger Ebershaldenfriedhof statt. 1947 wurde dort für sie und die 19 dort kremierten Toten des KZ-Echterdingen ein Gedenkstein mit folgender Inschrift in deutscher und hebräischer Sprache gesetzt: „Hier ruhen 85 Juden unbekannter Nationalität, Opfer nationalsozialistischer Grausamkeit. Ihr Sterben sei eine Mahnung zur Menschlichkeit für die lebende Generation.“
Danach verschwand das KZ jahrzehntelang völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein. Erst Ende der 1970er Jahre brachten der Antifaschistische Arbeitskreis des Jugendhauses Leinfelden und die Falken erste Forderungen nach der Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, die zunächst aber nur im Jahr 1982 zur Setzung eines Gedenksteins auf dem Friedhof Echterdingen führten. Vorher hatte die Flughafengesellschaft abgelehnt, an prominenter Stelle des Flughafengeländes an die Geschehnisse zu erinnern.
Erst über zehn Jahre später rückte das Erinnern näher an den „Tatort“ heran. Der Hangar, in dem die KZ-Häftlinge untergebracht waren, steht zwar auf dem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen US-Airfield zwischen Bernhausen und Echterdingen. Aber rechts vor dessen Einfahrt errichtete die Stadt Filderstadt aus Anlass des 50. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1995 ein Mahnmal zum Gedenken an die Häftlinge und die Toten des KZ-Außenlagers. Es besteht aus einem groben, drei Meter hohen unbehandelten Sandsteinbrocken – ganz ähnlich jenen, die die Häftlinge in den Steinbrüchen abbauen mussten – mit Gedenktafel. Eine zweite Tafel mit den bis dahin bekannten Namen der Opfer wurde 2010 hinzugefügt.
Nachdem ein Baggerführer bei Bauarbeiten innerhalb des US-Airfields am 19. September 2005 in der Nähe des Hangars zufällig auf menschliche Knochen stieß, wurden in den darauf folgenden Tagen 34 Skelette entdeckt. Es stellte sich heraus, dass es sich um ein weiteres Massengrab handelt. Dem Wunsch der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg und des Komitees zum Schutz jüdischer Friedhöfe in Europa entsprechend, erfolgte zur Wahrung der Totenruhe – die auch DNA-Analysen zur Identifizierung der Opfer ausschließt – am 15. Dezember 2005 in Anwesenheit zahlreicher Rabbiner aus dem In- und Ausland ihre feierliche Wiederbestattung an selber Stelle. Dieses Gräberfeld ist für die Öffentlichkeit nur bei offiziellen Gedenkveranstaltungen zugänglich.
Der Fund des Massengrabes gab Anstöße zur weiteren Erforschung der Lagergeschichte. Als gemeinsames Projekt der Städte Filderstadt und Leinfelden-Echterdingen wurde im März 2006 dazu eine Geschichtswerkstatt gegründet, die sich unter anderem der Gestaltung einer Gedenkstätte in unmittelbarer Nähe des einstigen KZ widmete. Deren Einweihung erfolgte am 8. Juni 2010. Die nach einem Entwurf von Dagmar Pachtner errichtete Gedenkstätte „Wege der Erinnerung“ befindet sich links des Eingangs zum US-Airfield. Sie besteht aus zwei weißen Betonmauern und zwei sich kreuzenden Wegen, die auf den Hangar und das Gräberfeld ausgerichtet sind. In eine der beiden Mauern sind Lausprecher eingelassen, aus denen wir die Namen aller ehemaligen Häftlinge vernehmen – gesprochen von 200 Menschen der Filder.
Um Gedenken und Erinnern auch in die Stadt, in den Alltag der Menschen zu bringen, entschloss sich die Stadt Leinfelden-Echterdingen im Jahr 2020 darüberhinaus, Informationstafeln entlang des Weges der KZ-Häftlinge in den Leinfelder Steinbruch aufzustellen.
Sabine Bade (Text und Fotos)
* Noch steht auf dem Stolperstein für Cesare Terracina, er sei in Natzweiler gestorben („morto a KZ Natzweiler“). Ich habe aber die CDEC informiert, sodass die Möglichkeit einer Korrektur besteht.
Vertiefende Informationen:
Brenneisen, Marco: Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen – Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945, Stuttgart 2020
Faltin, Thomas: Im Angesicht des Todes. Das KZ-Außenlager Echterdingen 1944/45 und der Leidensweg der 600 Häftlinge, Filderstadt/Leinfelden-Echterdingen 2008
Guida, Elisa: Senza Perdere La Dignita: Una Biografia di Piero Terracina, Rom 2021
Geschichtswerkstatt KZ-Aussenlager Echterdingen
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)