Ausflüge gegen das Vergessen (7): Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und „Euthanasie“
Fast 400.000 Menschen wurden Opfer der NS-Zwangssterilisationen. Seit kurzem erinnert in Ulm vor dem Landgericht eine Gedenkstätte an Zwangssterilisierte und die Opfer der „Euthanasie“-Morde. Wohingegen in Konstanz noch immer eine Passage nach Franz Knapp benannt ist, der sich als selber NS-belasteter Oberbürgermeister nach dem Krieg stark für die Rehabilitierung jenes Mannes einsetzte, der mitverantwortlich war für die Zwangssterilisation von 609 Männern und 499 Frauen.
Fast 400.000 Menschen wurden Opfer der NS-Zwangssterilisationen
Kranke und behinderte Menschen, oder wen die Nazis dafür hielten, gehörten zu den ersten Opfern im Nationalsozialismus. Die Umsetzung der „Rassenhygiene“ zum Schutz des „gesunden Volkskörpers“ begann unverzüglich nach ihrer Machtübernahme. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde am 14. Juli 1933 beschlossen und trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Für seine Umsetzung waren die Innenministerien maßgeblich, wobei die staatlichen Gesundheitsämter auf kommunaler und regionaler Ebene eine entscheidende Rolle spielten.
Die Sterilisationskampagne wurde von einer groß angelegten Propagandaaktion begleitet, die die ungemein große Belastung der gesunden arbeitenden Menschen durch die unnützlichen Erbkranken (auch als unnütze Esser oder Ballastexistenzen bezeichnet) zum Ausdruck bringen sollte.
In der Folge wurden fast 400.000 Menschen, davon mehr als 20.000 Frauen und Männer in Baden und Württemberg, gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. Nach einer Schätzung der Historikerin Gisela Bock kamen im Rahmen dieser Zwangsmaßnahmen zwischen 5000 und 6000 Menschen – davon 90 Prozent Frauen – zu Tode.
Ulm setzt ein deutliches Zeichen – mitten in der Stadt
Nach derzeitigem Forschungsstand wurden von Januar 1934 bis zum Ende des Nazi-Regimes im Amtsgerichtsbezirk Ulm nach vorherigem Urteil des Ulmer Erbgesundheitsgerichts 1155 Männer und Frauen zwangssterilisiert. Die Urteile fällten Ulmer Juristen und Ärzte, durchgeführt wurden die Eingriffe überwiegend im städtischen Krankenhaus.
Und mindestens 170 Menschen aus Ulm wurden im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen ermordet. (Zum umfassenden NS-Programm zur „Reinigung des Volkskörpers“, das als „Gnadentod“ (Euthanasie) bezeichnet wurde, siehe auch: Ausflüge gegen das Vergessen (2): Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck.)
Bereits im Jahr 2015, 75 Jahre nach dem Beginn der „Euthanasie“-Morde, hatte sich in Ulm ein Initiativkreis aus VertreterInnen der Behindertenstiftung Tannenhof, der Stolpersteininitiative, der Kirchen und des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg gegründet, der ein Mahnmal für die Ulmer Opfer errichten wollte. Auch die Stadt Ulm, das Landgericht Ulm und das Land Baden-Württemberg stellten sich in die gemeinsame Verantwortung und beteiligten sich ideell und finanziell. So konnte nach vier Jahren gemeinsamer Arbeit das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und „Euthanasie“ am 27. Oktober 2019 eingeweiht werden.
Es steht in der Olgastraße vor dem Ulmer Landgericht, in dem während der NS-Zeit das Erbgesundheitsgericht tagte, und vis-à-vis des ehemaligen staatlichen Gesundheitsamts in der Karl-Schefold-Straße 5, das die Erfassung, Verfolgung und Vernichtung im Zusammenspiel mit den Reichs- und Landesinstanzen koordinierte.
Am Ort der Täter verbindet die moderne Skulptur Opfergedenken mit umfassenden Tatinformationen: Das Metallband, das sich von der Fassade des Landgerichts löst, läuft auf den Platz für Gedenken und Information zu, wo die BesucherInnen mehr erfahren über die Hintergründe der Verbrechen und über die Opfer. Menschen wie den 1903 in Urach geborenen Otto Pröllochs, der nach seiner Banklehre in Ulm 1927 psychisch erkrankte, 1934 während eines Aufenthaltes in der Heilanstalt Schussenried zwangssterilisiert und 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wurde.
Im Rahmen der Einweihung des Erinnerungszeichens gab es eine Reihe von Veranstaltungen, auf denen auch Angehörige von Opfern zu Wort kamen. „Das ist wichtig“, so die wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, Nicola Wenge, „denn noch immer ist es nicht selbstverständlich, die Verfolgten öffentlich beim Namen zu nennen oder über ihre Lebensgeschichte zu sprechen, weil die Scham über die Krankheit und die damit verbundene Stigmatisierung sowie die Hilflosigkeit der Familie gegenüber den Verbrechen noch nachwirken. Ein zentrales Ziel des Erinnerungsprojekts ist es, dieser nachwirkenden Diskriminierung der Opfer mit einer offenen und respektvollen Erinnerungskultur zu begegnen. Einer Erinnerungskultur, die zugleich Bezüge zur Gegenwart herstellt, denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte eröffnet einen Reflexionsraum über unseren heutigen Umgang mit Krankheiten und Behinderungen.“
Und wie wird in Konstanz mit der Erinnerung an zwangssterilisierte Menschen umgegangen?
Unterscheiden sich die damaligen Urteile der Amtsträger im Konstanzer Gesundheitsamt und im Erbgesundheitsgericht wirklich so sehr von dem ihrer Ulmer Kollegen? Gab es keine Opfer, an die heute erinnert werden muss? War der Fall der 17-jährigen Gertrud T. aus Egg, die als Tochter eines streitbaren Sozialdemokraten ins Visier des Gesundheitsamts geriet und die daraufhin in der Konstanzer Frauenklinik zwangssterilisiert wurde, nur ein bedauerlicher Einzelfall, über den im Rosgartenmuseum (siehe Foto) informiert wird? Keinesfalls.
Das für die Bezirke der Amtsgerichte Konstanz, RadolfzeIl, Singen und Überlingen zuständige Erbgesundheitsgericht Konstanz veranlasste bis 1945 die Zwangssterilisation von 609 Männern und 499 Frauen. Dass dabei das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Konstanz mit besonderer Härte ausgelegt wurde und man weit über das von den Nazi-Machthabern Geforderte hinausging, ist seit langem bekannt.
Jürgen Klöckler hat in seinem Aufsatz über Ferdinand Rechberg (1900-1980), der ab 1. April 1935 Leiter des staatlichen Gesundheitsamtes Konstanz und auch ärztlicher Beisitzer des Erbgesundheitsgerichts gewesen war, die beiden Instanzen so beschrieben: Sie „arbeiteten konsequent ‚dem Führer entgegen‘ mit dem ideologischen Ziel, die Zahl der sich ‚hemmungslos‘ fortpflanzenden ‚Ballastexistenzen‘ zu minimieren.“
Rechberg blieb auch nach 1945 seiner Linie treu und konnte in seinem Verhalten keinerlei Unrecht erkennen: „Die Lehre von der Vererbung, die dem Erbgesundheitsgesetz zu Grunde liegt, war und ist wissenschaftlich doch unbestreitbar und unbestritten.“
Dass Ferdinand Rechberg bereits 1950 wieder im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Reichenau arbeiten konnte, dessen Leitung er 1954 übernahm, ist auch dem ehemaligen Oberbürgermeister Franz Knapp zu verdanken: Er setzte sich stark für dessen Rehabilitierung ein.
Bürgerschaftliches Engagement in Ulm hat uns vorgemacht, wie in Konstanz mit den dunklen Kapiteln der Stadtgeschichte umzugehen wäre: Der Opfer zu gedenken und nicht jener Männer, die Täter wieder in Amt und Würden hievten.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Gedenkstätten BadenWürttemberg: Ulm setzt ein „(Denk-)Zeichen“ – Erinnerungszeichen für die Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morden
Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg: NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morde
Mitteilungen des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg: NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morde, Heft 70 / Juni 2019
Zum Konstanzer Fall Ferdinand Rechberg:
Jürgen Klöckler: Ferdinand Rechberg – Biographische Anmerkungen zum Leiter
des Konstanzer Gesundheitsamtes bis 1945 und nachmaligen Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Reichenau, In: Hans-Jürgen Seelos / Klaus Hoffmann: 100 Jahre Eröffnung des heutigen Zentrums für Psychiatrie Reichenau, Köln 2013, S. 148-154
Arnulf Moser: „Zigeuner“ und „negroide Bastarde“. Zwangssterilisationen aus rassischen Gründen beim Konstanzer Gesundheitsamt 1933-1945, In: Jahrbuch „Hegau“ 69, 2012, S. 203 – 216
[the_ad id=“82653″]
In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)
Um ein Missverständnis auszuräumen: Mein Hinweis sollte nicht so verstanden werden, dass die Konstanzer Aufarbeitung der Zwangssterilisationen und „Euthanasie“-Morde beispielhaft sei.
Vielmehr will ich dazu anregen, anhand eines oder mehrerer Einzelschicksale sich selbst ein Bild zu machen, indem man beispielsweise den Lebensweg von Emma Wippler liest: http://stolpersteine-konstanz.de/wippler_emma.html. Das ist vielleicht überzeugender als bloss die grauenhaften Opferzahlen zu lesen.
Zum Konstanzer Umgang mit hiesigen „Euthanasie“-Opfern: Erst im Januar 1983 „fand“ man im Keller des Konstanzer Krematoriums 192 Urnen von Konstanzer „Euthanasie“-Opfern. Es wurde dann auf dem Hauptfriedhof eine Gedenkstätte eingerichtet. Und die ist derzeit recht ungepflegt.
Zur Erinnerung an Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ wurden in Konstanz bislang 25 Stolpersteine verlegt und die Biografien erforscht, so zum Beispiel für Berta Amman: http://stolpersteine-konstanz.de/amann_berta.html
Übersicht: http://stolpersteine-konstanz.de/aktion_t4.html