Ausflüge gegen das Vergessen (37): Erinnerungen an die „Schwarzwälder Blutwoche“ in Kehl
Während am 23. November 1944 auf der anderen Rheinseite alliierte und Truppen des Freien Frankreichs gerade Straßburg befreiten, erschossen NS-Schergen der Straßburger Gestapoleitstelle am Kehler Rheinufer neun französische Widerstandkämpfer. Dieser Mord war der Beginn eines Massakers an insgesamt 70 Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Réseau Alliance“, das als „Schwarzwälder Blutwoche“ in die Geschichte einging.
Die Widerstandsgruppe Réseau Alliance
Nur wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf Frankreich und der nachfolgenden Besetzung großer Teile des Landes gründete sich im November 1940 die Widerstandsgruppe Réseau Alliance (Netzwerk Allianz). Initiator war der ehemalige Offizier und rechtskonservative Verleger Georges Loustaunau-Lacau. Nach seiner Verhaftung im Jahr 1941 übernahm Marie-Madeleine Fourcade die Leitung. Die Führungspersonen an der Spitze des Netzwerks waren mehrheitlich Angehörige der oberen und mittleren Führungsschichten aus Militär und Wirtschaftskreisen. Im konservativ-nationalistischen Milieu bestens vernetzt, wurde ein Großteil der frühen Mitstreiter aus ehemaligen Armeeangehörigen rekrutiert. Im Jahr 1943 gehörten dem Netzwerk bereits etwa 3000 Männer und Frauen an – darunter mittlerweile aber auch Bauern, Handwerker, Priester, Sekretärinnen und Studierende. Die Widerstandsgruppe lieferte dem britischen Geheimdienst kriegswichtige Informationen über geheime Rüstungsfabriken in Deutschland, Abschussrampen für V1-und V2-Raketen, Truppenbewegungen, Transportrouten und Einsatzpläne deutscher Versorgungsschiffe und U-Boote und leistete so einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der alliierten Landung in der Normandie. Zudem beteiligte sich Réseau Alliance an Fluchthilfe-Aktivitäten und unterstützte politisch Verfolgte sowie deren Familien. Da die wichtigsten AgentInnen zur Tarnung Tiernamen verwendeten, die bei abgehörten Funksprüchen immer wieder auftauchten, gab die deutsche Abwehr dem Netzwerk, nach dessen in ganz Frankreich aktiven Mitgliedern sie fieberhaft fahndete, den Namen „Arche Noah“.
Von der Gestapo aufgespürte Mitglieder von Réseau Alliance wurden meist zunächst im Gefängnis Fresnes südlich von Paris inhaftiert und danach als sogenannte Nacht-und-Nebel-Häftlinge in das SS-Sicherungslager Schirmeck im Elsass überstellt. Als dieses Lager überfüllt war, verteilte die Gestapo Réseau-Alliance-Gefangene auch auf diverse Gefängnisse in Baden und Württemberg. Am 1. April 1944 in Karlsruhe, am 23. Mai 1944 in Ludwigsburg und am 21. August 1944 in Heilbronn wurden die dort inhaftierten Mitglieder der Widerstandsgruppe nach Schnellgerichtsverfahren hingerichtet. Zudem ermordeten die Nazis in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1944 auch 107 Frauen und Männer aus dem Lager Schirmeck im nur wenige Kilometer entfernten Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, dem zentralen NS-Hinrichtungsort für Elsass-Lothringen. Angesichts schnell vorrückender alliierter Truppen und des sich abzeichnenden Kriegsendes versuchte das NS-Regime, sämtliche ZeugInnen ihrer Massenverbrechen zu beseitigen.
Die „Schwarzwälder Blutwoche“ begann in Kehl
Als sich am 23. November 1944 alliierte und Truppen des Freien Frankreichs Straßburg näherten, begannen Angehörige der Straßburger Gestapoleitstelle unter der Leitung von SS-Hauptsturmführer Julius Gehrum mit der Ermordung der weiteren in Baden inhaftierten Mitglieder des Netzwerks. Ihre erste Station war Kehl. Gehrum und seine Kollegen Reinhard Brunner und Erwin Schöner fuhren über den Rhein und holten die Gefangenen Maurice Mandin, Hugues Monclin, Oscar Hosch, Joseph Singer, Joffre Lemeunier, Louis Helault, Louis Proton, André Coindeau und Armand Troudet aus dem Kehler Gefängnis. Mit vorgehaltener Waffe zwangen sie die neun französischen Widerstandskämpfer zum nahegelegenen Rheinufer, wo sie sich vollständig entkleiden mussten. Anschließend töteten sie die Männer per Genickschuss und warfen ihre nackten Körper in den Rhein. Der jüngste Ermordete war 22 Jahre alt, der älteste 41 Jahre; zwei gehörten der französischen Luftwaffe an, andere waren Techniker, Ingenieure und Landwirte.
SS-Hauptsturmführer Julius Gehrum fungierte vor seinem Wechsel in die Gestapoleitstelle nach Straßburg bereits von 1934 bis 1940 als Leiter der Gestapo in Kehl. Dort hatte er sich besonders bei der Verfolgung und Zerschlagung von Widerstandsgruppen der verbotenen KPD und SPD hervorgetan – und auch die sogenannte Judenaktion während der Reichspogromnacht am 10. November 1938 angeführt. Ab Juni 1940 leitete Gehrum unter dem Chef der Straßburger Sicherheitspolizei Dr. Erich Isselhorst die dortige Gestapo-Sektion III und war damit zuständig für die Verfolgung von Widerstandsgruppen. Nach der Ermordung der neun Männer in Kehl zog er, jeweils von zwei bis vier Kollegen begleitet, weiter nach Rastatt, Offenburg, Freiburg, Bühl, Pforzheim und Gaggenau, wo sie bis zum 30. November 1944 im Rahmen der „Schwarzwälder Blutwoche“ weitere 61 Männer und Frauen von Réseau Alliance ermordeten.
Gehrum, der später im Prozess angab, lediglich auf Befehl Isselhorsts gehandelt zu haben, wurde am 17. Mai 1947 vom Ständigen Militärgericht in Straßburg zum Tode verurteilt und am 10. November 1947 hingerichtet. Die Vollstreckung des auch gegen Isselhorst verhängten Todesurteils wurde verschoben, da noch weitere Verfahren gegen ihn anhängig waren; er wurde am 23. Februar 1948 hingerichtet.
Gedenken im Garten der zwei Ufer / Jardin des deux Rives
Seit dem 23. November 1996, dem 52. Jahrestag des Mordes an den neun französischen Widerstandskämpfern, erinnert in Kehl eine Gedenktafel an das Verbrechen und seine Opfer. Sie wurde auf Betreiben von engagierten Kehler MedizinerInnen am Pfeiler der Europabrücke angebracht – dort wo Gehrum und seine Kumpanen die nackten Leichen in den Rhein geworfen hatten. Auf der anderen, der französischen Rheinseite erinnert seit langem eine Gedenkstätte an die Ende November 1944 aus den Gefängnissen in Kehl, Rastatt und Bühl verschleppten und ermordeten Opfer der Gestapo. Seit dem Jahr 2004 befinden sind beide Gedenkorte nunmehr im für die grenzüberschreitende Landesgartenschau Kehl / Straßburg angelegten Garten der zwei Ufer / Jardin des deux Rives.
In diesem Park stehen seit einigen Jahren auch drei „Grenzrosen“, die die Erinnerung an die in Kehl ermordeten Mitglieder von Reseau Alliance im Gedächtnis der Stadt festhalten. Sie sind Teil des europäischen Versöhnungsprojektes des Essener Künstlers Thomas Rother, an verschiedenen Grenzorten zu allen neun Nachbarländern Deutschlands kleine Skulpturen aufzustellen, die an Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern. Unter Federführung der Stadt und in Kooperation mit zahlreichen Bildungseinrichtungen und Finanzierungspaten wurden in Kehl und Straßburg zwischen Juni 2013 und November 2014 insgesamt neun dieser Skulpturen aufgestellt; jede mit einer Gedenktafel, die die Tat beschreibt und die Opfer beim Namen nennt. Eine Grenzrose steht in der Nähe des Tatortes, zwei weitere auf beiden Seiten der Passerelle de deux rives, der Fußgängerbrücke zwischen Kehl und Straßburg. Sechs weitere Grenzrosen stehen in der Kehler Innenstadt, eine davon vor dem früheren Gefängnis, in dem die neun Männer vor ihrer Ermordung inhaftiert waren.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Scherb, Ute: Tatort Kehl – die Ermordung französischer Widerstandskämpfer des Reseau Alliance, in: Borgstedt, Angela et al. (Hg.): Mut bewiesen – Widerstandsbiographien aus dem Südwesten, Stuttgart 2017, S. 493-500
Projekt „Grenzrosen“ mit Lageplan
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)
• Georg-Elser-Gedenkorte in Königsbronn (36)