Ausflüge gegen das Vergessen (17): Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940
Am 22. Oktober 1940 wurden mehr als 450 jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Freiburg und Umgebung in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. Den Befehl gab die nazionalsozialistische Gauleitung im Rahmen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion. Viele der Deportierten kamen schon in Gurs durch Hunger und Krankheit um, die meisten wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
„Gau Baden ist judenrein“
In Freiburg lebte bei der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 die viertgrößte jüdische Gemeinde Badens. Ihre 1138 Mitglieder waren in Handel und Gewerbe tätig, angestellt beschäftigt oder übten als ÄrztInnen, ApothekerInnen oder RechtsanwältInnen freie Berufe aus. Fünfzehn Prozent der Gemeindemitglieder waren als WissenschaftlerInnen oder Studierende an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingeschrieben, durften aber schon an der Inauguration des neuen Rektors Martin Heidegger am 27. Mai 1933 nicht teilnehmen, der sich den Nazis willfährig als Nachfolger des erst im Dezember 1932 zum Rektor gewählten Demokraten Wilhelm von Möllendorff zur Verfügung gestellt hatte.
Sukzessive durch den Erlass der Nürnberger „Rassengesetze“ im September 1935 und die nachfolgenden Verordnungen weiter entrechtet und nahezu jeder Einkommensmöglichkeit beraubt, verließen viele Freiburger Jüdinnen und Juden das Land. Wer bleiben wollte oder keine andere Wahl hatte, erlebte in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 während der Reichspogromnacht die Zerstörung des Gotteshauses: Gegen 3 Uhr legten Männer der örtlichen SS und SA Feuer in der Freiburger Synagoge. Die herbeigeholte Feuerwehr verhinderte ein Übergreifen der Flammen auf die Umgebung, durfte die brennende Synagoge selbst aber nicht löschen.
Knapp zwei Jahre nach den Novemberpogromen wurden am 22. Oktober 1940 über 450 völlig überraschte jüdische Frauen, Männer und Kinder in Freiburg und den Landgemeinden der Umgebung verhaftet und aufgefordert, sich innerhalb kürzester Zeit reisefertig zu machen. Polizeieinheiten trieben die Menschen zu Sammelplätzen, zum Beispiel am Annaplatz im Stadtteil Wiehre, und beförderten sie anschließend in Lastwagen zur Stühlinger Brücke (heute: Wiwilibrücke).
Im darunterliegenden Güterbahnhof standen Eisenbahnwaggons bereit zur Fahrt in das am Fuß der Pyrenäen liegende südfranzösische Internierungslager Gurs. Im Rahmen dieser sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion wurden über 6000 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Baden und der Saarpfalz deportiert. Es war die erste derartige NS-Aktion gegen deutsche Juden und Jüdinnen im deutschen Reich überhaupt. Danach vermeldeten die verantwortlichen Gauleiter Robert Wagner (Baden) und Josef Bürckel (Saarpfalz), ihre Gaue seien nun „judenrein“, die Deportationen reibungslos und ohne Zwischenfälle verlaufen.
Ein Protest der Kirchen blieb aus; Conrad Gröber, seit 1932 Erzbischof von Freiburg, war förderndes Mitglied der SS.
Wo in Freiburg der Deportierten gedacht wird
Ein erstes Gedenkzeichen – wenn auch nicht für die Freiburger Opfer des Holocaust – wurde 1962 am Standort der 1938 zerstörten Synagoge gesetzt. Die Universität hatte Ende der fünfziger Jahre das aufgrund der zentralen Lage sehr wertvolle ehemalige Synagogengrundstück erworben und darauf das neue Kollegiengebäude II errichtet; das Grundstück gegenüber dem Stadttheater war nach dem Novemberpogrom 1938 in städtischen Besitz übergegangen. Am 10. November 1962, 24 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge, enthüllte der Rektor der Universität eine in die Rasenfläche vor dem Kollegiengebäude eingelassene Bronzetafel: „Hier stand die Synagoge, erbaut 1870. Sie wurde am 10. November 1938 unter einer Herrschaft der Gewalt und des Unrechts zerstört“.
An der in der Nähe des Freiburger Münsters 1987 fertiggestellten neuen Synagoge befindet sich eine Gedenktafel, mit der sich die Stadt Freiburg „mit Scham und Trauer“ der am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportierten Menschen erinnert.
Sehr prägnant, wenn auch wohl nur für Informierte verständlich, ist der gelbe Wegweiser in Form eines Straßenschildes, der die Entfernung nach Gurs mit 1027 Kilometer angibt. Im Jahr 2000 auf dem Platz der Alten Synagoge aufgestellt, ist es mittlerweile an einem Laternenpfahl angebracht.
Die Stühlinger Brücke, über die die Freiburger Jüdinnen und Juden ihre Fahrt in den Tod antraten, ist mittlerweile eine Fahrradbrücke und nach Freiburgs Partnerstadt Wiwili in Nicaragua benannt. Hier erinnert seit 2003 ein außergewöhnliches, wenn auch anfangs umstrittenes, bronzenes Mahnmal an die Deportationen von 1940: Ein in Eile vergessener Mantel mit einem (im Jahr 1940 noch nicht vorgeschriebenen) „Judenstern“ symbolisiert den Abtransport der Freiburger JüdInnen, eine Informationstafel daneben klärt über den historischen Hintergrund auf. Ganz in der Nähe, in der direkten Verlängerung der Brücke, steht seit dem Jahr 2006 auf dem Stühlinger Kirchplatz das Duplikat des Memorialsteins, der auf dem Gelände des zentralen Mahnmals für die deportierten Jüdinnen und Juden aus Baden in Neckarzimmern aufgestellt wurde.
Und auch am Annaplatz, einem der Orte, an denen die Menschen vor ihrer Deportation zusammengetrieben wurden, erinnert vor der kleinen Barockkirche eine Gedenktafel daran, dass von diesem Platz aus „vor aller Augen die Verschleppung der betroffenen Frauen, Männer und Kinder aus der Wiehre in das südfranzösische Konzentrationslager Gurs“ begann.
Das Wasserbecken auf dem Platz der alten Synagoge – Gedenken oder Planschen?
Eine weitere Gedenkstätte befindet sich auf dem im Jahr 2017 neugestalteten Platz der Alten Synagoge: Ein Wasserbecken, das den Grundriss der Synagoge nachzeichnet, und in das nun die 1962 an dieser Stelle aufgestellte Bronzetafel eingelassen ist. Womit auch die Erinnerung daran bewahrt wird, wie in der Bundesrepublik jahrzehntelang mit der NS-Vergangenheit umgegangen wurde: Die Inschrift lässt Opfer unerwähnt, anonymisiert Täter und schreibt die Verantwortlichkeit einer abstrakten Gewaltherrschaft zu.
Allerdings ist das Wasserbecken stark umstritten: Für die einen stellt es eine würdige Gedenkstätte dar – für die anderen ist es ein „Schandbrunnen“. Bereits der unvermutete Fund von Fundamentsteinen der 1938 zerstörten Synagoge während der Bauarbeiten und deren Nichteinbeziehung in die Gestaltung des Platzes hatte zu heftigen Kontroversen geführt. Dass aber dieser – noch immer namenlose – Wasserspiegel im Sommer als Planschbecken oder zum Kühlen von Bierflaschen und in den wasserlosen Wintermonaten Skateboard-Fahrern als Übungsstrecke dient, zeigte deutlich Nachbesserungsbedarf an. Um einen würdevolleren Umgang mit der Gedenkstätte zu erreichen, fiel Ende 2019 im Gespräch zwischen Stadtverwaltung und zwei jüdischen Gemeinden der Beschluss, eine halbe Million Euro für Korrekturen am Brunnen, unter anderem für eine digitale Infostele und ein Zonierungsband, zur Verfügung zu stellen.
Fundamentsteine der zerstörten Synagoge sollen zudem im zukünftigen NS-Dokumentations- und Informationszentrum im Rotteckhaus einen Platz finden.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Stadt Freiburg: Alte Synagoge
Stolperstein-Initiative Freiburg
Radio Dreyeckland: Konflikt um Platz der Alten Synagoge
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas: Neckarzimmern
Zentrales Mahnmal Neckarzimmern
Landeszentrale für politische Bildung: Entrechtet – verfolgt – vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten, Stuttgart 2016
Erhard Roy Wiehn: Camp de Gurs: zur Deportation der Juden aus Südwestdeutschland 1940, Konstanz 2010
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)