Ausflüge gegen das Vergessen (39): Über Konstanz / Kreuzlingen gelangten „Austauschjuden“ aus Bergen-Belsen in die Freiheit

Am 24. Januar 1945 erreichte ein Zug mit 136 jüdischen Häftlingen aus dem KZ Bergen-Belsen den Konstanzer Bahnhof. Die Männer, Frauen und Kinder waren sogenannte Austauschjuden; sie befanden sich dank eines Abkommens zwischen dem Nazi-Regime und der US-Regierung auf dem Weg nach St. Gallen. Für drei bereits schwerkranke Menschen kam die Rettung zu spät: Sie starben kurz nach dem Grenzübertritt im Kantonsspital Münsterlingen und wurden auf dem jüdischen Friedhof Kreuzlingen begraben.

Der Weg aus der Hölle von Bergen-Belsen

Im April 1943 übernahm das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) auf Anweisung  Heinrich Himmlers von der Wehrmacht den südlichen Teil des Kriegsgefangenenlagers Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide und richtete dort das „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“ ein. Es sollte als Lager für verschiedene Gruppen von Jüdinnen und Juden dienen, die von SS und Auswärtigem Amt zum Austausch gegen im feindlichen Ausland internierte Deutsche, Devisen oder Güter vorgesehen waren. Diese Geiseln waren vorläufig vom Massenmord ausgenommen. Als „Austauschhäftlinge“ auf Abruf kamen insbesondere Menschen in Betracht, die über offizielle Einwanderungspapiere der britischen Mandatsbehörde in Palästina verfügten, die Staatsangehörigkeit westlicher Feindstaaten besaßen oder Pässe oder Passversprechen neutraler Staaten Mittel- oder Südamerikas vorlegen konnten.

Es handelte sich überwiegend um Familien, die sich in den verschiedenen Baracken auch gegenseitig besuchen durften. Sie mussten zwar keine Häftlingskleidung tragen und ihre Köpfe wurden auch nicht kahlgeschoren. Aber alle LagerinsassInnen zwischen fünfzehn und fünfundsechzig Jahren mussten Schwerstarbeit leisten, und alle litten unter perversen Schikanen, Mangelernährung und Seuchen. Hinzu kam die ständige und überaus berechtigte Angst, doch noch nach Auschwitz direkt in den Tod deportiert zu werden:
Zwischen Juli 1943 und Dezember 1944 wurden mindestens 14.600 jüdische Männer, Frauen und Kinder in das Austauschlager Bergen-Belsen gesperrt. Aber nur etwa 2560 von ihnen gelangten mit verschiedenen Transporten in die Freiheit.

Der Transport vom 21. Januar 1945 nach St. Gallen

Die Verhandlungen über einen Austausch von circa 800 nord-, mittel- und südamerikanischen gegen circa 800 reichsdeutsche Zivilgefangene hatten sich über Monate hingezogen. Immer wieder waren die Hoffnungen der Menschen, die dafür aus Bergen-Belsen in Frage kamen, zerstoben. Bis endlich am 21. Januar 1945 ein Personenzug des Roten Kreuzes das KZ mit 301 Frauen, Männern und Kinder verlassen konnte. Trotzdem waren sich viele unsicher, ob dieser Zug sie wirklich in die Freiheit bringen würde. „Es musste ja nicht stimmen, dass sie uns in die Schweiz schickten. Vielleicht brachten sie uns an einen noch schlimmeren Ort. Wer konnte denn glauben, was die SS sagte?“ erinnerte sich die damals fünfzehnjährige, in Wien geborene Marietta Moskin in ihrem 1972 erschienenen Buch; es wurde 2002/03 von Biberacher SchülerInnen übersetzt und erschien im Jahr 2005 unter dem Titel  „Um ein Haar – Überleben im Dritten Reich“. Als aber kurz nach der Abfahrt des Zuges der Befehl erging, die Judensterne abzutrennen, wagte auch sie endlich, sich zu freuen: „Unsere Sterne abnehmen! Dann war es wahr! Es war wirklich wahr! Wir würden ausgetauscht werden. Wir reisten in die Freiheit! Wir rissen die Sterne ab, und es war uns egal, ob unsere Kleidung dabei Löcher bekam.“

Route der Häftlinge von Bergen-Belsen in die Schweiz (Skizze: Weidner-Händle-Atelier, Stuttgart)

Der Zug hielt oft stundenlang auf offener Strecke. Zerstörte Gleise machten riesige Umwege notwendig, sodass die Fahrt bis nah an die Schweizer Grenze mehrere Tage benötigte. Und es ging nicht alles glatt. Bei Aufenhalten in Oberschwaben endete für viele die Fahrt in die vermeintliche Freiheit: Viele Menschen mussten den Zug in Biberach verlassen, weitere in Ravensburg. Sie wurden in das Lager „Lindele“ in Biberach und die Internierungslager im Schloss Wurzach und in Liebenau gebracht, wo sie bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes ausharren mussten. An ihrer Stelle durften andere bisher Internierte den Zug besteigen – für die NS-Behörden waren sie die besser geeignete „Handelsware“ als ausgemergelte KZ-Häftlinge mit Pässen fraglicher Herkunft.

Unbeschreiblich enttäuschte Menschen zurücklassend, setzte der Zug seine Fahrt fort und erreichte am 24. Januar 1945 den Bahnhof Konstanz. Hier wurden die Frauen, Männer und Kinder zunächst in einer nicht endenwollenden Prozedur durch Gestapo-Leute von Kopf bis Fuß durchsucht und hatten danach viele Papiere zu unterzeichnen. Bis schließlich am 25. Januar der Moment kam, auf den alle so lange gewartet hatten: Sie durften zum Ende des Bahnsteigs auf den Schweizer Teil des Konstanzer Bahnhofs gehen und bestiegen dort einen Schweizer Zug, während in Gegenrichtung im Ausland internierte Reichsdeutsche heimkehrten.
Wer transportfähig war, wurde für einige Tage im Dorf Bühler bei St. Gallen untergebracht. Von dort aus ging es am 30. Januar 1945 weiter nach Marseille. Die wenigen Personen, die „echte“ US-amerikanische StaatsbürgerInnen waren und dies glaubhaft nachweisen konnten, bestiegen die „M.S. Gripsholm“ direkt nach New York. Die überwiegende Mehrheit hingegen musste zunächst im Lager Philippeville der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) in Algerien ausharren und konnte erst Monate später die Weiterreise antreten.

Aber für einige Menschen endete die Fahrt in die Freiheit bereits kurz hinter der Schweizer Grenze: Beim ersten Halt des Zugs in Kreuzlingen wurden die Schwerstkranken sofort in das Kantonsspital nach Münsterlingen gebracht. Für drei von ihnen, Alfred Spanjaard, Recha Kaufmann-Wolff und Dr. Margarethe Wiener, kam jedoch jede ärztliche Versorgung zu spät: Sie starben kurz nach ihrem Eintreffen in der Klinik. 

Die antifaschistische Ökonomin Margarethe Wiener

Margarethe Wiener im Jahr 1918 (Foto: Wiener Holocaust Library Collections, courtesy of the Wiener Family, 2019/36/1/5/9)

Während sehr viel über das Leben und Wirken von Dr. Alfred Wiener, den Gründer und Namensgeber der „Wiener Holocaust Library, bekannt ist, sind die Informationen über seine Frau Margarethe ausgesprochen rar.
Margarethe Saulmann, am 26. März 1895 in Hamburg geboren, studierte nach dem Abitur an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg Wirtschaftswissenschaften. Unmittelbar nach Erlangung ihrer Promotion im Jahr 1921 zog sie nach Berlin. Dort lernte sie den zehn Jahre älteren Alfred Wiener kennen, der als hochrangiger Vertreter des Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) akribisch Material sammelte, das die Verbreitung der NS-Propaganda und ihrer rassistischen Lehren dokumentierte. Die beiden heirateten und bekamen vier Kinder – was aber Margarethe Wiener nicht davon abhielt, viel beachtete Artikel und Bücher zu veröffentlichen, in denen sie die Wirtschaftspolitik der Nazis kritisierte und die gefährliche antisemitische Natur der Partei hervorhob. Als ihr Hauptwerk gilt das 1931 erschienene Buch „Vom nationalsozialistischen Wirtschaftsprogramm: Eine kritische Betrachtung“.

Sie und ihr Mann erkannten weit früher als andere, welche Gefahr von den Nazis ausging. Sie emigrierten deshalb bereits 1933 mit ihren drei kleinen Töchtern (ihr Sohn Carl war im Alter von sechs Jahren gestorben) nach Amsterdam. Dort gründete Alfred Wiener zusammen mit David Cohen das Jewish Central Information Office (JCIO), aus dem später die „Wiener Holocaust Library“ hervorging; untergebracht war das JCIO im selben Haus, in dem auch die Familie lebte.

Sechs Jahre später sahen sich die Wieners wegen der sich abzeichnenden Kriegsgefahr gezwungen, nach England umzuziehen. 1939 reiste zunächst Alfred aus und verlegte die Bibliothek nach London. Margarethe und ihre Töchter Ruth (*1927), Eva (*1930) und Mirjam (*1933 ) sollten später folgen. Doch der Plan scheiterte: Nach der deutschen Invasion im Mai 1940 waren sie als Staatenlose in Amsterdam gefangen und wurden schließlich am 20. Juni 1943 von den Nazis festgenommen und im Rahmen der systematischen „Entjudung“ des Landes in das Durchgangslager Westerbork verschleppt. Da es Alfred allerdings vorher gelungen war, für seine Familie Pässe des Staates Paraguay zu erhalten, entgingen die vier der sofortigen Deportation in ein Vernichtungslager – im Gegensatz zu Margarethes Schwester Gertrud und deren Familie, die nur wenige Wochen später in Sobibor ermordet wurden. Wäre ihre Mutter allein gewesen, hätte sie nicht die Verantwortung für sie und ihre Schwestern getragen, schilderte Mirjam Wiener später in einem ergreifenden Interview, wäre sie mit ihnen in den Tod gefahren.

Grabstätte auf dem Jüdischen Friedhof Kreuzlingen

So aber kamen Margarethe und ihre Töchter nach siebenmonatigem Aufenthalt in Kamp Westerborg als „Vorzugs“- oder „Austauschjuden“ in das Lager Bergen-Belsen und gehörten dort am 21. Januar 1945 zu jener Gruppe von Menschen, die in einem Zug des Roten Kreuzes das KZ in Richtung Schweiz verlassen konnten. Zu diesem Zeitpunkt war Margarethe Wiener allerdings bereits so krank, dass sie unmittelbar nach dem Grenzübertritt in das Kantonsspital Münsterlingen gebracht werden musste, wo sie kurz darauf, wie auch Recha Kaufmann-Wolff und Alfred Spanjaard, starb.
Die drei wurden auf dem jüdischen Friedhof in Kreuzlingen beerdigt, wo ein Gedenkstein vor ihren Gräbern auf ihr Schicksal verweist:
“Opfer des Lagers Bergen-Belsen / Ihre Kraft reichte bis zum Betreten freien Bodens / Sie zeugen vom vorzeitigen Ende von 6 Millionen Juden in den Jahren 1933-1945
Im Januar 1945“
Ruth, Eva und Mirjam Wiener konnten in Marseille an Bord der „M.S. Gripsholm“ gehen und trafen bei ihrer Ankunft in New York nach sechsjähriger Trennung ihren Vater wieder.

Sabine Bade
(Teaserfoto mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Saskia Egloff, Routen-Skizze aus dem Buch von Diana Gring und Peter Müller mit freundlicher Gemehmigung der Gedenkstätte Bergen-Belsen und des Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen)

Vertiefende Informationen:
Adler, Reinhold: Das Lager Lindele und der jüdische Friedhof im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit
Gring, Diana / Müller, Peter: Licht am Ende der Nacht – Die Transporte aus dem KZ Bergen-Belsen nach St. Gallen, St. Gallen 2019
Moskin, Marietta: Um ein Haar – Überleben im Dritten Reich, München 2005
Spanjaard, Barry: Don’t fence me in! An American Teenager in the Holocaust, Los Angeles 1981
The Wiener Holocaust Library: Margarethe’s Story

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:

Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)
Georg-Elser-Gedenkorte in Königsbronn (36)
Erinnerungen an die „Schwarzwälder Blutwoche“ in Kehl (37)
Das hundert Kilometer lange Freiluft-Denkmal „Über die Grenze“ in Vorarlberg
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