Ausflüge gegen das Vergessen (40): „Euthanasie“-Verbrechen in der Heilanstalt in Kloster Irsee

Aus dem im bayerischen Allgäu gelegenen Irsee wurden in den Jahren 1940 und 1941 circa 400 Menschen im Rahmen der „T4-Aktion“ in Tötungsanstalten verschleppt und dort vergast. Danach ging das systematische Morden vor Ort weiter: Durch Hungerkost, aber auch durch Tabletten und Injektionen starben weitere über 800 Männer, Frauen und Kinder. Das Gedenken an das Geschehen und die Opfer, darunter auch der vierzehnjährige Jenische Ernst Lossa, hat sich im Lauf der Zeit gewandelt, wie die Kontroverse um das heute nicht mehr ausgestellte Triptychon in der früheren Prosektur zeigt.

Vom Benediktinerkloster zum Ort systematischer PatientInnenmorde

Das im Jahr 1186 zur eigenständigen Abtei erhobene Benediktinerkloster Irsee bestand bis 1802, als es im Zuge der Säkularisation aufgelöst wurde. In den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Gebäuden entstand am 1. September 1849 die erste stationäre Psychiatrie im Regierungsbezirk Schwaben, die „Kreis-Irrenanstalt Irsee“ für etwa achtzig Patientinnen und Patienten. Da in kurzer Zeit die Zahl der dort untergebrachten Personen auf über 300 anstieg, beschloss der Landrat 1869, die Anstalt nach Kaufbeuren zu verlegen, wo 1872 mit dem Bau der neuen „Kreis-Irrenanstalt“ begonnen wurde. Mit deren Fertigstellung im Jahr 1876 verlor die Anstalt in Irsee ihre Eigenständigkeit und wurde von da an (bis zur Schließung des Klinikbetriebes im Jahr 1972) als Zweigstelle und Pflegeanstalt für LangzeitpatientInnen genutzt.

Im November 1929 übernahm Dr. Valentin Faltlhauser (1876-1961) die Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Hatte er noch Anfang der 1930er Jahre als Anhänger der Reformpsychiatrie eugenisch-bevölkerungspolitische Konzepte abgelehnt, änderte er seine Haltung mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten vollkommen und wurde zu einem der vehementesten Vertreter der „Rassenhygiene“ zum Schutz des „gesunden Volkskörpers“: In Kaufbeuren legte Faltlhauser eine „Erb- und Sippenkartei“ an, gründete eine Ortsgruppe der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“, sprach sich ab Mitte der 1930er Jahre offen für Zwangssterilisation aus, arbeitete für das Rassenpolitische Amt der NSDAP sowie als Richter am Erbgesundheitsgericht in Kempten. Im August 1940 begann Faltlhausers offizielle Tätigkeit als Gutachter der „Aktion-T4“. Er selektierte für Tötungen vorgesehene PatientInnen – von den NS-Tätern als „lebensunwertes Leben“ charakterisiert – und erstellte die Listen für deren Deportation in die Tötungsanstalten Grafeneck  oder Hartheim bei Linz. Diesem Mordprogramm fielen aus der Anstalt Irsee in den Jahren 1940 und 1941 annähernd 400 Menschen zum Opfer.

Nachdem die „Aktion-T4“ im August 1941 infolge öffentlicher, vor allem kirchlicher Proteste offiziell eingestellt wurde, entwickelte Faltlhauser mit einer gezielt eingesetzten „Entzugs-Kost“ (auch „E-Kost“ oder „Euthanasie-Kost“) die Fortführung des abgebrochenen Mordprogramms: Auf einer Konferenz der bayerischen Anstaltsdirektoren am 17. November 1942 im bayerischen Innenministerium referierte er über seine in Kaufbeuren und Irsee bereits ab 1941 gemachten Erfahrungen bei der Verabreichung einer fettlosen Sonderkost, durch die „arbeitsunfähige“ Patienten innerhalb von drei Monaten verhungerten. Ein Verfahren, das mit dem „Hungerkost-Erlaß“ des Bayerischen Staatsministers des Inneren nur wenig später auch in anderen Anstalten Anwendung fand.

Gemordet wurde im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“-Maßnahmen aber nicht nur durch systematisches Verhungernlassen, sondern auch durch Überdosierung von Medikamenten und Injektionen. Faltlhauser hatte in der T4-Zentrale Berlin dafür erfahrene und geeignete Kräfte angefordert, um die von ihm betriebenen Tötungsaktionen zügig umsetzen zu können. Insgesamt starben dadurch in Irsee bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes weitere über 800 Menschen – unter ihnen mehr als 70 Kinder und Jugendliche. Einer von ihnen war der vierzehnjährige Ernst Lossa.

Das Schicksal Ernst Lossas als Beispiel des perversen Rassen- und Auslesewahns der Nazis

Dies Foto von Ernst Lossa heftete an dessen Krankenakte (Historisches Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren)

Am 9. August 1944 wurde Ernst Lossa (1929–1944) in Irsee ermordet. Die aus vielen Tötungsanstalten liquidierungserfahrene Krankenschwester Pauline Kneissler hatte ihm gleich zwei Spritzen mit dem starken Betäubungsmittel Morphium-Scopolamin gegeben. Im  Leichenschauschein findet sich als Grundleiden der Eintrag „Asocialer Psychopath“ und als Todesursache „Bronchopneumonie“ (Lungenentzündung). In Ernsts Krankenakte gab es hingegen keinerlei Verschleierung der wahren Todesursache: Neben seinem Sterbetag steht dort der Vermerk „Euthanasiert!“.

Ernst Lossa war weder psychisch krank, noch litt er an einer anderen Behinderung –   allerdings entstammte er einer jenischen Familie, die sich als fahrende Händler eher schlecht als recht über Wasser zu halten vermochte. Und da sich die von den Nazi-Schergen erheblich verschärften Maßnahmen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ nicht nur gegen Sinti und Roma richteten, sondern zugleich gegen „nach Zigeunerart umherziehende Landfahrer“ (womit Jenische und andere „Fahrende“ gemeint waren), geriet seine Familie ins Visier der Nazi-Bürokratie. Mit knapp vier Jahren wurde der kleine Ernst aus seiner Familie gerissen. Seine Mutter starb kurz danach an Tuberkolose, sein Vater war ab Januar 1936 zunächst im KZ Dachau, später bis zu seinem Tod im Mai 1942 im KZ Flossenbürg inhaftiert. Ernst, früh mit dem Stigma des „Zigeuners“ belegt, reagierte auf drakonische Erziehungsmaßnahmen im Waisenhaus mit Verhaltensauffälligkeiten und verübte kleinere Diebstähle, woraufhin er zunächst in ein NS-Erziehungsheim, dann mit der Diagnose  „asozialer Psychopath“ einer Ärztin des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München nach Irsee gelangte. Dort wurde er am 9. August 1944 aus reiner Willkür ermordet.

„Nebel im August – die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“

Dass wir heute so viel über das Schicksal von Ernst Lossa wissen, ist zunächst darauf zurück zu führen, dass die US-Amerikaner – die nach der Befreiung unter anderem auch die „Euthanasie“-Morde in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und deren Außenstellen untersuchten – die Umstände seines Todes durch Vernehmung mehrerer Zeugen dokumentarisch aufarbeiteten. Seine Krankengeschichte und gezielte Tötung dienten als exemplarisches Beispiel in mehreren Strafprozessen zu Verbrechen der Nazis. Sein Schicksal war auch Bestandteil der Beweisführung in dem 1948 am Landgericht Augsburg geführten Strafprozess gegen den Anstaltsleiter Valentin Faltlhauser und weitere Angeklagte. (Dennoch erging 1949 gegen Faltlhauser lediglich ein sehr mildes Urteil: Er wurde zu drei Jahren Haft wegen „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag in mindestens 300 Fällen“ verurteilt, wobei 16 Monate in einem US-amerikanischen Internierungslager voll auf die Haft angerechnet wurden und er die Reststrafe nicht mehr anzutreten brauchte.)

Dennoch hätte Ernst Lossas Schicksal leicht in Vergessenheit geraten können – wäre da nicht Dr. Michael von Cranach gewesen, der 1980 die Stelle des leitenden ärztlichen Direktors des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren antrat. Als einer der ersten deutschen Klinikdirektoren begann er die Geschichte der NS-Psychiatrie-Verbrechen aufzuarbeiten. Dafür sichtete er mit seinen MitarbeiterInnen Verwaltungs- und Prozessakten, die noch vorhandenen Krankengeschichten der ermordeten Menschen und sprach mit ZeitzeugInnen. Immer wieder stieß er dabei auf Ernst Lossa. Im Jahr 2002 übergab er dem Autor Robert Domes, damals Leiter der Lokalredaktion Kaufbeuren der Allgäuer Zeitung, dessen Krankenakte; er solle sie lesen, um vielleicht ein Buch daraus zu machen. Dieses Buch hat Robert Domes geschrieben. Es erschien nach fünfjähriger Recherche als Roman-Biografie im Jahr 2008 unter dem Titel „Nebel im August – die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“. Im Vorwort des vielfach ausgezeichneten Buches schrieb Michael von Cranach: „Bücher wie dieses geben Ernst und allen Opfern die Würde zurück, die ihnen auf so schlimme Art genommen wurde.“

Wie heute in Kloster Irsee der Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen gedacht wird

Skulptur des Bildhauers Martin Wank auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof zum Gedenken an die „Euthanasie“-Opfer

Nach der Einstellung des Klinikbetriebs im Jahr 1972 erfolgte die Sanierung, Renovierung und Restaurierung des ehemaligen Klosters Irsee. Seit 1981 wird es als Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks Schwaben genutzt und beherbergt darüberhinaus die Schwabenakademie und das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags.
Noch im selben Jahr wurde auf dem ehemaligen, erst im April 1944 auf dem Höhepunkt des Mordens angelegten Anstaltsfriedhof eine Skulptur des Bildhauers Martin Wank zum Gedenken an die „Euthanasie“-Opfer der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt errichtet.
In den Jahren 2009 und 2015 verlegte Gunter Demnig insgesamt zehn „Stolpersteine“ vor dem Kloster – einer von ihnen auch für Ernst Lossa.

Stolpersteine vor der Klosterkirche

Zwischen 1996 und 2018 diente darüberhinaus die frühere Prosektur (Anatomie) als Gedenkstätte. Das eng mit den „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Zeit verbundene kleine Nebengebäude – hier wurden die Leichen seziert, falsche Totenscheine ausgestellt und zahlreichen Leichen Organe zu Forschungszwecken entnommen – war noch weitgehend im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Es beherbergte zwei Räume, den Aufbahrungs- und den mit einem steinernen Seziertisch versehenen Obduktionsraum. Zudem hing dort zwanzig Jahre lang unbeanstandet ein Werk der international anerkannten Münchner Künstlerin Beate Passow, das im Jahr 2018 Anlass für die bis heute andauernde Schließung der Gedenkstätte bot.

Die Auseinandersetzung um das Triptychon in der Prosektur

In den 1990er Jahren erhielt Passow, die mit ihren Werken seit langem gegen das kollektive Vergessen anarbeitet, von Michael von Cranach Originalaufnahmen ehemaliger Patientinnen und Patienten der Heilanstalt, die ihm zugespielt worden waren. Er war es auch, der anregte, sich damit künstlerisch auseinander zu setzen. Als sie ihren aus diesen Fotos entstandenen dreiteiligen Siebdruck „… möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten“ 1996 in der Ausstellung „HEIMAT“ des Kunsthauses Kaufbeuren präsentierte, war der damalige Leiter des Bildungszentrums davon so stark beeindruckt, dass der Bezirk Schwaben das Werk für die Prosektur erwarb.

Rechter Flügel des Triptychons von Beate Passow

Dort hing das Kunstwerk lange Zeit – bis es heftigen Anstoß erregte. Die von den aktuell Verantwortlichen gegen das Triptychon in der Gedenkstätte vorgebrachten Argumente sind so vielfältig, dass hier nur einige aufgezählt werden können: Das Bild, das auf drei Fotos von Kindern basiert, die den BetrachterInnen von zwei Pflegerinnen entgegen gehalten werden, entwürdige die Opfer, da es sie nur aus Täterperspektive zeige. Die Fotos seien nicht in Irsee, sondern im einige Kilometer entfernten Kaufbeuren aufgenommen. Auch das titelgebende Zitat im unteren Bildteil entstamme dem Anfang einer Korrespondenz zwischen der Anstalt Kaufbeuren – nicht etwa Irsee! – und einem Kemptener Lungenarzt von 1944. Mühsam aufgespürte Angehörige eines der abgebildeten Jungen hätten sich gegen dessen Darstellung ausgesprochen. Und zudem seien die postmortalen Bildrechte ungeklärt.

Im September 2018 wurde die Prosektur – die übrigens auch vorher auschließlich jenen zugänglich war, die sich dafür den Schlüssel an der Rezeption hatten aushändigen lassen – schließlich geschlossen. Die Gedenkstätte müsse, was auch diverse Gutachten bestätigten, vollkommen überarbeitet werden: Der Bezirk Schwaben wolle auch den leisesten Verdacht einer diskriminierenden Opferdarstellung vermeiden.

Auch heute, vier Jahre später, ist die Prosektur noch immer abgesperrt. Und über den Verbleib des Triptychons – diesen zutiefst berührenden Stein des Anstoßes – ist zumindest der Künstlerin nichts bekannt.

Sabine Bade (Text und Fotos, Foto des Triptychons: Beate Passow)

Vertiefende Informationen:
Domes, Robert: Nebel im August; Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa, München 2008
Schulze, Dietmar: „Es wäre doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Anstalt, die Angehörigen des Patienten zu verständigen … “, Familien von „Euthanasie“-Opfern und ihr Schriftwechsel mit der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-lrsee, Irsee 2021
Schulze, Dietmar: „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“ – Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee, Irsee 2019
Von Cranach, Michael: Die Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus, Irsee 1990
Biografisches Archiv der Psychiatrie: Faltlhauser, Valentin – Psychiater, Beteiligter an Patientenmorden im Nationalsozialismus 
Die unerträgliche Wahrheit, Süddeutsche Zeitung vom 19. September 2018
Heikle Opferbilder, Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2018

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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:

Widerständiges Bregenz (1)
Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
Das KZ Spaichingen (4)
Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
Endstation Feldkirch (9)
Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
Das KZ Radolfzell (11)
Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
Das KZ Überlingen (13)
Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
Das KZ Bisingen (16)
Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
Auf den Heuberg (19)
Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
Die andere Mainau (23)
Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
Das jüdische Hohenems (28)
Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
Das KZ Echterdingen (35)
Georg-Elser-Gedenkorte in Königsbronn (36)
Erinnerungen an die „Schwarzwälder Blutwoche“ in Kehl (37)
Das hundert Kilometer lange Freiluft-Denkmal „Über die Grenze“ in Vorarlberg
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Über Konstanz / Kreuzlingen gelangten „Austauschjuden“ aus Bergen-Belsen in die Freiheit
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