Ausflüge gegen das Vergessen (41): Gedenkort für griechische Zwangsarbeiter in Hailfingen-Tailfingen
Im September 1944 trafen 382 Männer, manche nicht älter als 16 Jahre, aus dem berüchtigten Athener KZ Chaidari in Hailfingen ein. Sie waren hierher verschleppt worden, um unter widrigsten Umständen den Nachtjägerflugplatz weiter auszubauen und ihn gegen die zunehmenden Angriffe der Alliierten zu schützen. An dem bereits seit 2010 bestehenden beeindruckenden KZ-Gedenkpfad erinnert seit Juli 2022 ein neues Gedenkareal an ihr Schicksal.
Griechische Zwangsarbeiter zum Ausbau des Nachtjägerflugplatzes
Im April 1941 begann der völkerrechtswidrige Überfall deutscher Truppen auf Griechenland. Ihm folgte eine drei, mancherorts vier Jahre andauernde Besatzungszeit, die von einer kaum vorstellbar langen Reihe barbarischer Kriegsverbrechen, erbarmungsloser Ausbeutung und bereits mindestens 40.000 (wahrscheinlich aber annähernd 100.000) Hungertoten allein im ersten Besatzungswinter 1941/1942 gekennzeichnet war.
Bei ihrem Abzug hinterließ die Deutsche Wehrmacht nach dem militärisch sinnlosen, allein der Vernichtungsabsicht geschuldeten und völkerrechtswidrigen „Prinzip der verbrannten Erde“ ein völlig zerstörtes Land. Weit über tausend griechische Dörfer wurden zerstört, hunderttausende griechische Frauen, Männer und Kinder verhungerten, oder wurden durch Geiselerschießungen, Massaker an der Zivilbevölkerung oder Teilnahme an Widerstandsaktionen getötet.
Selbst noch bis kurz vor dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen vom griechischen Festland im Herbst 1944 dienten Razzien, die deutsche Einsatztruppen zusammen mit Mitgliedern der „Sicherheitsbataillone“ durchführten – vor allem in den „roten Hochburgen“ im Großraum Athen – zur Einschüchterung der Bevölkerung und der Suche nach „Kommunisten“. Sie waren zudem ein probates Mittel, um den Arbeitskräftemangel der deutschen Rüstungsindustrie zu befriedigen: Aus den zusammengetriebenen Männern eines ganzen Bezirks wurden jeweils mehrere hundert Arbeitsfähige zwischen 14 und 60 Jahren ausgewählt, zunächst in das KZ Chaidari transportiert und danach zur Zwangsarbeit in deutsche Konzentrationslager deportiert.
„Ein perfekter Ort zum Sterben“
Iakovos Zakarian und sein Halbbruder Eduard Rock-Tabarowski, die beide am 9. August 1944 bei Razzien in den Athener Stadtvierteln Dourgouti, Neos Kosmos, Katsipodio und Faros in die Fänge der deutschen Besatzer gerieten, waren zwei der 382 Männer, die nach ihrer Inhaftierung im KZ Chaidari und einer wochenlangen Odyssee am 20. September 1944 direkt in Hailfingen als Zwangsarbeiter zum Einsatz kamen.
Ihre Aufgabe bestand darin, den 40 Kilometer südwestlich von Stuttgart auf einem Areal der Gemeinden Tailfingen, Hailfingen und Bondorf gelegenen Militärflugplatz weiter auszubauen. Nachdem dort im Mai 1944 Teile der I. Gruppe des Nachtjagdgeschwaders 6 stationiert waren, wurde zusätzlich der Bau von Rollwegen, splittersicheren Flugzeugboxen und kleineren Flugzeughallen angeordnet, um die Nachtjäger gegen die zunehmenden Angriffe der Alliierten zu schützen.
Die griechischen Zwangsarbeiter waren in einem leerstehende Hangar untergebracht; dort mussten die Männer anfangs auf dem mit wenig Stroh belegten Boden schlafen. Die sanitären Verhältnisse waren katastrophal. Hinter der Halle war im Freien eine Grube mit einem Balken, die als WC diente. Rund um das Lager lief ein zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun, und im Nordosten und Südwesten befanden sich Wachtürme. Die Männer arbeiteten – oftmals barfuss – in den Steinbrüchen in der Nähe des Flugplatzes, an der Verlängerung der Start- und Landebahn, an Rollwegen sowie am Bau der zweiten Landebahn. Ioannis Goutas, ein weiterer der 382 Männer, schrieb am 24. September 1944 in sein Tagebuch: „Jetzt endlich ist unser Problem gelöst. Man musste durch ganz Deutschland fahren, um den perfekten Ort zum Sterben zu finden.“
Dass die meisten Griechen den Aufenthalt in Hailfingen überlebten – drei von ihnen starben: Stylianos Vasillakis, Athanasios Zotas und Mikirditsch Sachakian – verdankten sie ihrer Verlegung in andere Lager. Ihre Arbeit übernahmen im November 1944 über sechshundert im KZ Stutthof bei Danzig als arbeitsfähig klassifizierte jüdische Häftlinge; das Lager wurde mit ihrem Eintreffen zu einem Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof im Elsass (siehe dazu: Ausflüge gegen das Vergessen (22): Das KZ Hailfingen-Tailfingen).
„Jeder Mensch hat einen Namen“ – viele von ihnen auf der neuen Gedenkwand
Die Vorgänge im KZ Hailfingen-Tailfingen lagen lange Jahre im Dunkeln, wurden verdrängt und verschwiegen. Dass die KZ-Gedenkstätte mittlerweile aus einem beeindruckenden Mahnmal, einem KZ-Gedenkweg und einer Dauerausstellung besteht, ist das Ergebnis von jahrzehntelangem bürgerschaftlichem Engagement, vor allem den intensiven Recherchen von Volker Mall, Harald Roth und Johannes Kuhn.
Das Mahnmal am Westende der ehemaligen Startbahn des Flughafens Hailfingen erinnert seit Juni 2010 an die 601 KZ-Häftlinge. Seit dem Jahr 2010 beherbergt das Tailfinger Rathaus auch ein Dokumentationszentrum zur Geschichte des Konzentrationslagers mit einer modernen, stark auf den Einsatz audiovisueller Medien setzenden Dauerausstellung. An die Orte der grauenvollen Geschehnisse führt zudem ein Gedenkpfad, der zur Zeit zwölf Stationen umfasst und mit dreisprachigen Informationstafeln die historischen Hintergründe erläutert.
Auf ihm gelangt man in einem kleinen Wäldchen zur Ruine einer ehemaligen Flugzeug-Reparaturhalle. Nachdem sie jahrelang zwischen Bäumen und Sträuchern versteckt war, wurde sie 2014 und 2016 schrittweise sichtbar gemacht. Im Sommer 2016 entfernten Freiwillige im Rahmen eines internationalen Workcamps Gebüsch, Wurzeln, Efeu und legten die mit Erde bedeckten Fundamente frei. Im Juli 2018 wurden drei der Pfeiler der Halle zu „Denkpfeilern“ umgestaltet: Auf ihnen brachte der Rottenburger Bildhauer Ralf Ehmann Edelstahlinschriften in sechs Sprachen an. „Jeder Mensch hat einen Namen” soll uns mahnen, aufzustehen gegen Entmenschlichung. Seither ist der so aufgewertete Ort den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern des Lagers Hailfingen-Tailfingen gewidmet.
Am 19. Juli 2022 wurde bei den „Denkpfeilern“ das neue Gedenkareal für die griechischen Zwangsarbeiter eingeweiht. Es besteht aus der ebenfalls von Ralf Ehmann gestalteten Gedenkwand mit den Namen von 70 bisher namentlich ermittelten Griechen und 312 noch „namenslosen“ Ziegelsteinen. Vier Infosäulen geben zudem Aufschluss über ihr Leben, ihren Alltag und ihr Leiden. Davor steht die Büste von Nikolaos Skaltsas, eines weiteren ehemaligen Zwangsarbeiters, die Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse des Paul-Klee-Gymnasiums Rottenburg geschaffen haben.
Viele Namen, Einzelheiten und Hintergründe lägen ohne die intensiven Recherchen von Volker Mall und dem Historiker Iason Chandrinos, der auch seine Habilitation dem Thema Zwangsarbeit der Griechen im Dritten Reich widmete, noch immer im Dunkeln. Gemeinsam werteten sie eine aufgefundene Liste aller 1040 im August 1944 nach Deutschland deportierten Griechen aus, spürten Zeitzeugen auf und publizierten das Buch „,Wir waren Menschen zweiter Klasse‘ – Die Geschichte der 1040 im Sommer 1944 von Athen nach Deutschland deportierten Griechen“, in dem auch viele Tagebuchaufzeichnungen ehemaliger Gefangener enthalten sind.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
Chandrinos, Iason / Mall, Volker: „Wir waren Menschen zweiter Klasse“ – Die Geschichte der 1040 im Sommer 1944 von Athen nach Deutschland deportierten Griechen, Norderstedt 2022
KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)
• Georg-Elser-Gedenkorte in Königsbronn (36)
• Erinnerungen an die „Schwarzwälder Blutwoche“ in Kehl (37)
• Das hundert Kilometer lange Freiluft-Denkmal „Über die Grenze“ in Vorarlberg
(38)
• Über Konstanz / Kreuzlingen gelangten „Austauschjuden“ aus Bergen-Belsen in die Freiheit (39)
• „Euthanasie“-Verbrechen in der Heilanstalt in Kloster Irsee (40)