Ausflüge gegen das Vergessen (42): Das KZ Leonberg
Durch die Röhren des alten Engelbergtunnels verlief bis 1998 der Verkehr der Autobahn A81 zwischen Stuttgart und Heilbronn. Was aber nur Wenige wissen: Bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes schufteten in diesem bombensicheren Tunnel tausende Häftlinge des KZ Leonberg an der Fertigstellung des Düsenjägers Me 262 der Firma Messerschmitt AG – einer von Hitlers „Wunderwaffen“.
Bombensichere Rüstungsproduktion: „Unternehmen Reiher“
Deutsche Rüstungsbetriebe waren das bevorzugte Ziel alliierter Bombenangriffe. Als Reaktion auf die Zerstörung vieler für den erhofften „Endsieg“ wichtiger Fabriken entstand auf Anordnung des Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion unter Albert Speer am 1. März 1944 der „Jägerstab“. Als Leitungsorgan der deutschen Luftrüstung sollte dieser Stab die Dezentralisierung von Fertigungsketten und die Untertage-Verlagerung der Produktionsstätten koordinieren. Für die geplante Verlagerung der Rüstungsbetriebe am Bodensee (Maybach, Zeppelin, Dornier und ZF) mussten dafür erst langwierig Stollen in die Molassefelsen bei Überlingen getrieben werden; Willy Messerschmitt hingegen wurde für den Bau der Tragflächen seines Jagdflugzeugs Me 262 – dem ersten in Serie gebaute Düsenjäger – eine bereits bestehende bombensichere neue Produktionsstätte zugewiesen: der Engelbergtunnel.
Der 318 Meter lange Tunnel – ein Reichsautobahn-Prestige-Projekt der Nazis – war nach einer Bauzeit von drei Jahren am 5. November 1938 eröffnet worden. Allerdings verlor er nach Beginn des Kriegs seine Bedeutung: Treibstoff war ein knappes Gut, private Pkw waren requiriert. Entscheidender noch: Durch den Tunnel verlief keine kriegswichtige Verkehrsader. So wurde er ab Frühjahr 1944 zur Produktionsstätte der Messerschmitt AG umgestaltet, nachdem deren Werke in Regensburg und Augsburg-Haunstetten bei alliierten Bombardierungen schwer getroffen worden waren.
Das Unternehmen erhielt den Decknamen „Reiher“, die neue Fabrikationsstätte der Messerschmitt AG den Tarnnamen „Presswerk Leonberg“. In die Tunnelröhren wurden Zwischendecken eingezogen, sodass eine Produktionsfläche von etwa 11.000 Quadratmetern entstand. Die beiden Röhren waren mit Querstollen verbunden, ein Luftschacht führte von oben in den Tunnel. Schließlich wurden alle vier Öffnungen des Tunnels mit Betonschleusen zum Schutz gegen Tieffliegerangriffe versehen. Für die Energieversorgung mussten eine Hochspannungsleitung und eine Umspannstation errichtet werden; für die Wasserversorgung wurden fünf Grundwasserbrunnen im Glemstal gefasst und eine drei Kilometer lange Wasserleitung entlang der Autobahn gebaut.
Nachrangig waren hingegen sanitäre Anlagen für die Männer, die dort arbeiten sollten. Schon in der Vorplanung hatte Willy Messerschmitt in einer Denkschrift an den Jägerstab geschrieben: „Bei der Planung der Einrichtung muss darauf geachtet werden, dass … Nebenanlagen wie Toiletten erst nach Inbetriebnahme … ergänzt werden“. Das Gewerbeaufsichtsamt reklamierte nach einer Besichtigung in einem Schreiben an Messerschmitt vom 22. November 1944, dass man im Tunnel bis zu den Knöcheln in Kot wate und sich das Urin-Kotgemisch über den ganzen Hang ergieße, was Epidemien zur Folge haben könne.
KZ-Häftlinge als Arbeiter für Messerschmitt
Für die Produktion benötigte Messerschmitt dringend Arbeitskräfte. Vor allem nach dem Scheitern der „Blitzkrieg“-Strategie und der Proklamation des „totalen Kriegs“ war die Kriegswirtschaft nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte aufrecht zu erhalten; fast alle deutschen Männer waren ja eingezogen. Da aber der Vormarsch der Roten Armee der Verschleppung von Menschen aus Osteuropa ein Ende bereitet hatte, durchkämmte das für die Beschaffung der Arbeitskräfte zuständige SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (SS-WVHA) nun die Konzentrationslager.
Zwischen dem 6. und 10. April 1944 trafen 298 KZ-Häftlinge aus Natzweiler im Elsass ein. Mit ihrer Ankunft wurde Leonberg zu einem Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof. Danach waren es vor allem Häftlinge aus dem KZ Dachau und dessen Außenlagern, die nach Leonberg verschleppt wurden. Später kamen Häftlinge auch aus Auschwitz, Flossenbürg und Sachsenhausen hinzu.
Die Montage der Tragflächen der Me 262 erfolgte in vielen Arbeitsschritten an einer Art Fließband, wobei die Nietprozesse ein wesentlicher Bestandteil der Häftlingsarbeit war: An sieben Tagen pro Woche mussten die Männer in 12-Stunden-Schichten die pro Tragfläche benötigten 22.240 Nieten einschlagen. Die Arbeitsbedingungen waren fürchterlich: Die Niethämmer erzeugten einen Höllenlärm, der aufgewirbelte Aluminiumstaub verursachte immense Atemprobleme und auch bei Eiseskälte musste im ungeheizten Tunnel gearbeitet werden. Für die Bauleitung und die Produktion war die Organisation Todt zuständig; die Bewachung erfolgte durch SS-Männer.
Untergebracht wurden die Männer – die meisten hatten bereits eine lange Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager hinter sich und waren ausgemergelt und geschwächt – in acht einfachen Holzbaracken für je etwa 300 Mann. Hinzu kamen eine Waschbaracke, Küche, ein Krankenrevier, Latrinen und ein Leichenhaus. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und von Wachtürmen flankiert; auf dem Appellplatz stand ein Galgen.
Nicht weit davon entfernt wurde zusätzlich zu diesem „alten Lager“ bis Dezember 1944 ein weiteres Lager errichtet. Dieses „neue Lager“ bestand aus drei zweistöckigen Häusern aus Betonfertigteilen und war ebenfalls mit Stacheldraht umzäunt und von Wachtürmen umgeben. Ende Januar 1945 war das KZ Leonberg bereits mit weit über 3.000 Häftlingen aus 24 Nationen belegt. Neben circa tausend jüdischen Männern waren die meisten „politische“ Gefangene. Wer von ihnen unter den katastrophalen Arbeitsbedingungen, vollkommen ungenügender Ernährung und fehlender medizinische Betreuung zusammenbrach, wurde in Sterbelager nach Vaihingen/Enz, nach Dachau oder Bergen-Belsen transportiert. Mindestens 389 Männer aber starben innerhalb von nur 13 Monaten in Leonberg; sie wurden durch Arbeit vernichtet oder ermordet. Die ersten Leichen verbrannte man noch auf dem Stuttgarter Pragfriedhof. Später verscharrte die SS sie in Massengräbern auf dem Blosenberg.
Kurz vor Kriegsende wurden die Häftlinge auf Todesmärschen nach Oberbayern getrieben, die Maschinen demontiert und die beiden Röhren gesprengt. Bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes waren lediglich 1433 Jäger des Typs Me 262 gefertigt worden, von denen die meisten wegen Sprit- und Pilotenmangel gar nicht zum Einsatz kamen.
Von jahrzehntelanger Verdrängung bis zur Gründung der Gedenkstätteninitiative
Nach der Befreiung drängten die französischen Militärbehörden auf eine Einfriedung der Massengräber auf dem Blosenberg und die Errichtung eines großen Kreuzes. Am 1. November 1945 erfolgte die Weihung der Anlage. Nachdem die Region mittlerweile der US-amerikanischen Besatzungszone zugeordnet worden war, pochten deren Behörden darauf, das Areal zu vergrößern und das Holzkreuz durch eines aus Eisenbeton zu ersetzen. Dies geschah im Folgejahr, wobei allerdings durch nichts erkennbar war, dass es sich bei der Anlage um einen KZ-Friedhof handelte.
Das Prinzip des Verschweigens und Verdrängens blieb auch bestehen, als endlich im Sommer 1953 die Gebeine der ehemaligen KZ-Häftlinge exhumiert und zum größeren Teil in ein Sammelgrab auf dem Leonberger Friedhof an der Seestraße verlegt wurden. Dort ruhen seither die Gebeine von 337 Männern; die weiteren 52 Opfer wurden in ihre Heimatländer überführt oder auf den Waldfriedhof München umgebettet. Es sollte jedoch noch weitere Jahre dauern, bis die neue Grabstätte als solche auch erkennbar gemacht war. Erst seit 1962 befindet sich am Massengrab eine Gedenkstele mit folgender Inschrift: „389 Söhne vieler Völker Europas ruhen hier, Opfer der Gewaltherrschaft in dunkler Zeit. Ihr Tod mahnt uns alle, das Rechte zu tun, dem Unrecht zu wehren und Gott in seinen Geschöpfen zu ehren. 1933–1945“. Geschaffen wurde die Stele vom Konstanzer Bildhauer Adolf Schmid, der dabei Gestaltungsentwürfen des Gemeinderats Leonberg folgte. Der Text verschleiert ganz bewußt, dass hier KZ-Häftlinge ruhen – mit einem Konzentrationslager sollte Leonberg nach Ansicht des damaligen Gemeinderats keinesfalls in Verbindung gebracht werden!
Kurz danach erfuhr auch die Gedenkanlage auf dem Blosenberg eine Neugestaltung: Die Inschrift auf der neu verlegten Steinplatte ist etwas präziser und nennt wenigstens die korrekte Anzahl der hier jahrelang Verscharrten: „In Memoriam – Hier ruhten die Gebeine von 373 Opfern des SS-Arbeitslagers Leonberg. Sie wurden inzwischen auf dem städtischen Friedhof beigesetzt.“
Erst gegen Ende der 1970er Jahre begann in Leonberg die erste Auseinandersetzung mit den vor Ort verübten Verbrechen, nachdem vorher Studien zu einigen rechtsrheinischen Natzweiler-Außenlagern erschienen waren. Dass Mitte der 1980er Jahre noch alle Pläne einiger Leonberger Pfarrer für die Errichtung einer ersten Gedenkstätte scheiterten, zeigt, wie stark die Schlussstrich-Mentalität damals noch verbreitet war. So dauerte es bis 1992, dass im Vorraum der evangelischen Blosenbergkirche, die sich direkt neben dem Areal des „neuen Lagers“ befindet, wenigstens ein Gedenkbuch mit den Namen, Nationalitäten, Geburts- und Sterbedaten der bis dahin ermittelten Opfer aufgelegt werden konnte.
Nachdem 1995 eine vom Kreisverband der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) konzipierte Wanderausstellung zum KZ Leonberg vor Ort präsentiert wurde, waren es erneut die evangelischen Kirchengemeinden, die an die Opfer des Konzentrationslagers erinnerten und am Ostermontag einen Gedenkmarsch zum Blosenberg organisierten. Den entscheidenden Impuls zur Gründung einer bürgerschaftlichen Initiative zur Einrichtung einer KZ-Gedenkstätte erfolgte drei Jahre später, als sich Harald Reinhard, der Leiter des Samariterstifts auf dem ehemaligen Lagergelände, dafür einsetzte, im Rahmen der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum des Stifts einen Gedenkstein für die KZ-Opfer zu errichten. Den Text dafür verfasste Eberhard Röhm, Leonberger Pfarrer und Religionslehrer im Ruhestand. Im März 1999 gründete er mit Gleichgesinnten die KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg, die bereits ein halbes Jahr später am inzwischen stillgelegten Engelbergtunnel eine Informationstafel anbrachte.
„Namen statt Nummern“
Schnell kamen weitere Informationstafeln hinzu, die zusammen seit 2001 den „Weg der Erinnerung“ nachzeichnen. Dieser Weg führt vom Bahnhof, wo die Transporte der KZ-Häftlinge ankamen, entlang der Seestraße an den authentischen Orten des KZ vorbei bis zum Eingang des alten Engelbergtunnel. (Seit April 2015 stehen auf dem Friedhof, einer Station dieses Erinnerungswegs, auch drei Namenstafeln für die dort bestatteten Häftlinge, die –anders als die 1962er-Stele die wahren Umstände nennen.)
Und noch bevor der Verein die Genehmigung erhielt, auf der Südseite der Weströhre ein Dokumentationszentrum einzurichten, konnte am 8. Mai 2005 vor dem Tunneleingang die vom Künstler Johannes Kares entworfene Namenswand eingeweiht werden. Aus vielen Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen hatten die Vereinsmitglieder ein Verständnis dafür entwickelt, was es bedeutet haben muss, im KZ den eigenen Namen zu verlieren und zur bloßen Nummer degradiert zu werden. So wurden in die Namenswand nicht nur die Namen der im KZ Leonberg durch Arbeit getöteten 389 Häftlinge eingebrannt – sondern die Namen aller zu diesem Zeitpunkt bekannten knapp 3000 ehemaligen Häftlinge.
Seit Juni 2008 gibt es die Dokumentationsstätte zur Geschichte des KZ Leonberg. Sie ist von April bis Oktober jeden Sonntag von 14-17 Uhr geöffnet und informiert detailliert über die Geschehnisse. Das Prinzip „Namen statt Nummern“ halten die Verantwortlichen nach wie vor hoch: Nach dem Fund einer Liste des Häftlingstransport, der noch am 16. März 1945 mit 1000 Männern aus dem KZ Flossenbürg im bereits völlig überfüllten und von Seuchen geplagten KZ Leonberg eintraf, bekamen auch diese Männer vor dem Engelbergtunnel ihre Namen zurück: Im Rahmen eines Jugendcamps wurden im Mai 2013 die tausend Namen in Metallplatten geprägt. Im von Johannes Kares aus Stahlrohren geschaffenen „Haus der Namen“ hängen diese Platten seither vor dem Tunnel.
Sabine Bade (Text und Fotos)
Vertiefende Informationen:
KZ-Gedenkstätte Leonberg e.V.
Baur, Joachim / Wörner, Birgit (Hg.): Konzentrationslager und Zwangsarbeit in Leonberg, 2001
Brenneisen, Marco: Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen – Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945, 2020
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In unserer Artikel-Reihe “Ausflüge gegen das Vergessen” erschien bisher:
• Widerständiges Bregenz (1)
• Die Tötungsanstalt Schloss Grafeneck (2)
• Auf den Spuren Paul Grüningers in Diepoldsau (3)
• Das KZ Spaichingen (4)
• Zum Naturfreundehaus Markelfingen im Gedenken an Heinrich Weber (5)
• Orte jüdischen Lebens in Gailingen (6)
• Das Ulmer Erinnerungszeichen zu Zwangssterilisation und “Euthanasie” (7)
• Die KZ-Gedenkstätte im Eckerwald (8)
• Endstation Feldkirch (9)
• Zum Mahnmal der Grauen Busse in die ehemalige Heilanstalt Weißenau (10)
• Das KZ Radolfzell (11)
• Opfergedenken und Tätererinnerung in Waldkirch (12)
• Das KZ Überlingen (13)
• Die Stuttgarter Gedenkstätte für Lilo Herrmann (14)
• Die Gedenkstätte für nach Auschwitz deportierte Sinti aus dem Ravensburger Ummenwinkel (15)
• Das KZ Bisingen (16)
• Freiburger Erinnerungsstätten an die Oktoberdeportation 1940 (17)
• Nach Riedheim und Singen im Gedenken an Max Maddalena (18)
• Auf den Heuberg (19)
• Zum Grab der Widerstandskämpferin Hilde Meisel nach Feldkirch (20)
• Das „Gräberfeld X“ in Tübingen (21)
• Das KZ Hailfingen-Tailfingen (22)
• Die andere Mainau (23)
• Die ehemalige „Heilanstalt Zwiefalten (24)
• Das KZ Oberer Kuhberg in Ulm (25)
• Die Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (26)
• Der Stuttgarter Deportationsbahnhof (27)
• Das jüdische Hohenems (28)
• Das Frauen-KZ in Geislingen an der Steige (29)
• Im Gedenken an Jura Soyfer und andere Verfolgte des NS-Regimes nach Gargellen (30)
• Die Gedenkstele für Ernst Prodolliet in seinem Heimatort Amriswil (31)
• Das St. Josefshaus in Herten/Rheinfelden (32)
• Das KZ Natzweiler-Struthof (33)
• Die Gedenkstele für ZwangsarbeiterInnen in Lindau (34)
• Das KZ Echterdingen (35)
• Georg-Elser-Gedenkorte in Königsbronn (36)
• Erinnerungen an die „Schwarzwälder Blutwoche“ in Kehl (37)
• Das hundert Kilometer lange Freiluft-Denkmal „Über die Grenze“ in Vorarlberg
(38)
• Über Konstanz / Kreuzlingen gelangten „Austauschjuden“ aus Bergen-Belsen in die Freiheit (39)
• „Euthanasie“-Verbrechen in der Heilanstalt in Kloster Irsee (40)
• Gedenkort für griechische Zwangsarbeiter in Hailfingen-Tailfingen (41)