Der Klimacamp-Blog (26): Wenn alles kippt

Neulich hatten wir schon einmal einen Ausblick gegeben, worauf wir zusteuern. Leider gibt es jedoch noch ein ganz großes Kapitel in unserem Erdsystem, das die Notwendigkeit einer Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze noch einmal in Stein meißelt: Die Kipp-Punkte. Auch das Klimasystem als Ganzes besitzt analog zu einem menschlichen Organismus Klimaorgane beziehungsweise Kippelemente, die das Gesamtsystem stabilisieren und regulieren. Steigt die Temperatur über einen Schwellwert, droht das Organ zu versagen, beziehungsweise zu kippen.

Neben zahlreichen kleineren Kipp-Punkten gibt es 16 große, die bei verschiedenen Temperaturen relativ schnell von einem Zustand in einen anderen umschlagen und damit das Klimasystem verändern. Häufig ist dieser Prozess mit einer Erhitzung der Erde verbunden.

Ein Beispiel, das momentan viel diskutiert wird:
Grönland ist von einer circa drei Kilometer dicken Eisschicht bedeckt. Diese Eisschicht ist so hoch, dass sich ihre Spitze in Luftschichten befindet, in denen es so kalt ist, dass es dort draufschneit. Schmilzt das Eis zu sehr, kommt es in tiefere, also wärmere Luftschichten und das Eis schmilzt noch schneller. Ein Teufelskreis. Ab einem gewissen Punkt ist so viel Eis geschmolzen, dass auch der Schnee, der im Winter wieder fällt, nicht ausreicht, um das Abschmelzen zu verhindern. Die Folge: Die ganze drei Kilometer dicke Eisschicht schmilzt unwiderruflich ab. Selbst wenn sich die Temperaturen in ferner Zukunft wieder auf vorindustriellem Niveau einpendeln würden, würde das Eis weiter abschmelzen. Bis alles Eis weg ist, dauert es zwar lange, je nach Erhitzung zwischen 2000 und 10000 Jahre, aber der Prozess kann nie wieder gestoppt werden. Und sieben Meter Meeresspiegelanstieg sind damit sicher. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte ein abschmelzendes Grönlandeis den Meeresspiegel bereits um einen Meter höher ausfallen lassen. Wie viel genau ist stark abhängig von dem Klimaschutz, den wir betreiben.

Kipp-Punkte stehen allerdings nicht isoliert voneinander da. So verlangsamt bereits heute das Schmelzwasser die Nordatlantische Umwälzzirkulation (AMOC: Atlantic meridional overturning circulation) und beeinflusst den Teil des Golfstroms, der bei uns ankommt. Mehr Schmelzwasser könnte dazu führen, dass die Zirkulation stoppt und eine der großen Meeresströmungen unseres Planeten zusammenbricht. Die Folgen wären brutal. Massive, plötzliche Veränderungen des Meeresspiegels, veränderte Regenfälle, Kälteeinbruch mit Winterstürmen über Europa, verbunden mit den bekannten Folgen: Überflutung, Ernteausfälle und so weiter.

Kein Zehntel Grad mehr!

Gleichzeitig würde ein zusammenbrechender AMOC weniger Hitze aus dem Amazonasregenwald abtransportieren. Verbunden mit einer Rodungspolitik könnte der Amazonasregenwald kollabieren, also sich in großen Stil in eine Savanne verwandeln. Das würde wiederum gewaltige Mengen an CO2 freisetzen, den Regenfall weltweit verändern und weitere Kipp-Punkte triggern.

Übrigens wird momentan intensiv diskutiert, ob ein Zusammenbruch des AMOC kurz bevorsteht: Eine Katastrophe, die nicht eintreten darf.

Grundsätzlich gilt, bei allen Kipp-Punkten ist extrem schwer vorherzusagen, ob es sie gibt, bei welcher Temperatur sie liegen und was passiert, wenn sie fallen. Für den Kipppunkt beim Grönländischen Eisschild wird zum Beispiel eine Bandbreite von 0,8 bis 3,2 Grad Celsius globaler Erhitzung diskutiert. Mit dem wahrscheinlichsten Ergebnis, dass der Kipp-Punkt bei +1,6 Grad liegt, also nur knapp über der 1,5-Grad-Grenze.

Im schlimmsten Fall, wenn viele Kipppunkte wie aufgereihte Dominosteine fallen und die Erde immer weiter aufheizen, nennt man das, was auf uns zukommt, eine Heißzeit. Heißzeit heißt, dass unsere eigenen Treibhausgasemissionen die Erderhitzung nur noch beschleunigen würden, und selbst nach Erreichen der Klimaneutralität die Temperaturen immer weiter steigen würden. Der Mensch würde den Übergang in die Heißzeit vermutlich nicht überleben.

Ob es einen Punkt gibt, ab dem sich das Klima immer weiter aufheizt und wir vollends die Kontrolle verlieren, wird intensiv diskutiert und ist unklar. Eine vielbeachtete Studie aus dem Jahr 2018 schlussfolgerte jedoch: Diese Analyse legt nahe, dass selbst wenn die Erderwärmung gemäß dem Pariser Abkommen auf 1,5 bis 2°C begrenzt wird, das Risiko besteht, dass eine Kettenreaktion aus Rückkopplungseffekten die Erde unwiderruflich in eine Heißzeit führt.“ (Sinngemäß übersetzt nach „Trajectories of the Earth System in the Anthropocene, Will Steffen et al. in PNAS, August 14, 2018)

Was bei der ganzen Geschichte verstanden werden muss ist, dass das Überschreiten von Kipp-Punkten, das Kollabieren von Ökosystemen und das Zusammenbrechen von Meeresströmungen ein unwiderruflicher Prozess ist. Falls diese Punkte überschritten werden, kann keine noch so ausgefeilte Technik das Erdsystem wieder reparieren.

Dementsprechend schlussfolgerten die sich sonst so zurückhaltend äußernden Physiker auch 2020: […] der Beleg für Kipp-Punkte alleine zeigt auf, dass wir uns in einem planetaren Notstand befinden. Sowohl das Risiko, als auch die Dringlichkeit der Situation ist akut. (Sinngemäß übersetzt nach „Climate tipping points – too risky to bet against, Timothy Lenton et al. in Nature 2020)

Und so bleibt es jetzt wohl an uns, das Fazit zu ziehen. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Jetzt müssen wir uns entscheiden – wie radikal wollen wir Klimaschutz gestalten? Können wir es uns leisten, die 1,5 Grad Grenze zu überschreiten?

Text: Manuel Oestringer von der Klimacamp-Redaktion
Grafiken: Vom Klimacamp zur Verfügung gestellt (zweite Grafik siehe „Der Tollhauseffekt“ und Steffen et al., 2018)

 

Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(25): Besuch im Camp
(24): Ein Konstanzer Traum
(23): Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22): Die Kirche und das Camp
(21): Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20): Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19): Diese Woche? Klimawoche!
(18): Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17): Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16): Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15): Ein Plädoyer für Offenheit
(14): Was kostet Anwohnerparken?
(13): Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht