Der Klimacamp-Blog (29): Tag 134 – und weiter geht’s!

Dienstag, 14. Dezember 2021. Am frühen Morgen hängt eine dichte Wolkenschicht über der Stadt. Während das Tageslicht kaum durchdringt, wird die Schicht surreal von der Stadt angestrahlt. War hier Roland Emmerich am Werk? Die Kälte zieht schon beim Radfahren die Ärmel hoch. Good News: wir haben für das Klimacamp einen alten Bauwagen organisiert, und seit gestern ist dieser elektrisch beheizbar. Es gibt aber noch etwas zu tun, um ihn winterfest und heimelig zu machen.

Beim Reparieren eines Fensters kommt eine ältere Dame zufällig vorbei und grummelt deutlich hörbar „Das sind sie wieder, die Faulenzer.“ Ich spreche sie freundlich an, frage, wie sie das meint, aber sie ist zu keinem Gespräch bereit. Ich solle doch schauen, dass ich nicht erfriere. So vorgefestigte, unverrückbare Ansichten nehmen einem den Mut.

Ein Gespräch am Nachmittag ist erbaulicher: Ein älterer Herr, ehemaliger Lehrer, spricht uns an, drückt seine Wertschätzung aus, und wir diskutieren über Gott und die Welt. Ich verneine seine Vermutung, die neue Gaspipeline der Stadtwerke sei schon beschlossene Sache. Er nennt sich Wirtschaftswunderkind, berichtet lebhaft von seinem gesellschaftlichen Engagement in den 68ern und in der Friedensbewegung. Für mich hat die Klimakrise einen entscheidenden Unterschied zu den damaligen Bedrohungen: sie ist viel sicherer vorhersehbar. Bei gesellschaftlichen Unruhen, Extremismus, auch beim Wettrüsten ist die Gefahr schwer kalkulierbar, wie bei einer Fahrt im Nebel. Als Zweckoptimist kann man immer auch die Meinung vertreten, die da oben werden dass schon richten, es wird schon nicht so schlimm werden.

Der Klimawandel ist aber gut vorhersehbar, wie ein Zug, der bei klarer Sicht auf einen Abgrund zufährt. Man kann die Lage jederzeit einschätzen und berechnen, was noch getan werden muss, um die Katastrophe abzuwenden. Und jeder, der sich ein wenig mit der Materie vertraut macht, sieht deutlich, dass noch bei weitem nicht genug getan wird. Wir plaudern und flaxen, und ein Süßstückchen später (Kaffee war leider gerade aus) verabschiedet er sich, mit dem selbstgesteckten Vorsatz, seine Meinung zur Gaspipeline an Herrn Reuter von den Stadtwerken zu schreiben.

Basislager und Mahnmal

Das Klimacamp ist Versammlungsort, Informationsquelle, Basislager, ein Ort der Begegnung und des Austauschs, und das macht es so attraktiv für uns und Gleichgesinnte. Es ist aber auch ein Mahnmal und Denkanstoß für Passant:innen und erinnert an die Wichtigkeit eines entschlossenen Handels gegen die Klimakrise.

Am Abend sitzen wir im Plenum vor dem Pavillon: Zehn Gestalten im Halbdunkel, eingemummelt, teils im Schlafsack, alle mit Maske; man erkennt sich fast nur an der Stimme. Ein weiteres Dutzend nimmt virtuell teil, denn eine wichtige Frage steht für heute auf der Tagesordnung: Wollen wir das Klimacamp über Weihnachten und den Winter weiterführen? Die Debatte ist konstruktiv, lebhaft. Ich bin mal wieder fasziniert, wie diszipliniert, achtsam, ja in meinen Augen manchmal fast zu brav die Runde argumentiert. Am Ende stimmen die 22 Teilnehmer ausnahmslos für eine Fortsetzung des Camps. Ein beeindruckendes Votum, wo doch allen bewusst ist, dass Corona und das Winterwetter die Camp-Aktivitäten stark beschränken werden. Doch wir wissen, wofür wir kämpfen.

Manuel berichtet noch, dass sich die Entscheidung für oder wider die zusätzliche Gaspipeline nach Konstanz weiter verzögert. Mein erster Gedanke: Gut so, denn die Zeit wird zeigen, wie unsinnig diese 23-Millionen-Euro-Ausgabe ist. Das Gutachten und die Diskussionen dazu haben gezeigt, dass sachlich alles dagegen spricht. Die von den Stadtwerken stets angeführt juristisch bindende Versorgungsverpflichtung macht selbst bei übervorsichtiger Einschätzung aller Szenarioparameter eine zusätzliche Gaszufuhr kaum notwendig. Bei der Berücksichtung der vom Gemeinderat beschlossenen Wärmestrategie für Konstanz ist sie völlig überflüssig. Die sich fast wöchentlich ändernde Lage der Vorgaben zur Erdgasversorgung auf deutscher und europäischer Ebene verstärken dies.

Wie Kodak mit den Filmröllchen

Die Stadtwerke Konstanz machen aber weiter Werbung für Erdgasprodukte und vermarkten sie sogar als „100 Prozent klimafreundlich“. Mich erinnert die Situation an den Niedergang der Firma Kodak, die in den Neunzigern den Übergang zur Digitalfotografie verpasste und mit ihren Filmröllchen den Bach runter ging. Disruptive Veränderungen haben schon so mancher Firma den Kragen gekostet.

Das Plenum dreht sich nun um andere Themen. Meine Gedanken schweifen ab: Ich stelle mir vor, dass 2030 der Oberbürgermeister und der Leiter der Stadtwerke bei der Eröffnungsfeier eines weiteren Wärmenetzes sich zuprosten, ins Plaudern kommen, und sich einig sind: „Weißt du noch, vor nicht einmal zehn Jahren wollten wir in Konstanz noch die Erdgaskapazitäten erhöhen. Was für eine depperte Idee im Nachhinein.“

Mit Eisfüßen radle ich am Abend heim, ein warmes Fußbad im Visier, und mit den Gedanken bei der heutigen Nachtschicht im Camp.

Nachtrag: Seit dem 15. Dezember bewerben die Stadtwerke ihr Erdgas nicht mehr als klimafreundlich. Ein begrüßenswerter Schritt in die richtige Richtung.

Text: Richard Bartscher von der Klimacamp-Redaktion
Fotos (vom 10. Dezember 2021): Carina von der Klimacamp-Redaktion

Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(28): Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27): Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26): Wenn alles kippt
(25): Besuch im Camp
(24): Ein Konstanzer Traum
(23): Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22): Die Kirche und das Camp
(21): Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20): Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19): Diese Woche? Klimawoche!
(18): Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17): Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16): Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15): Ein Plädoyer für Offenheit
(14): Was kostet Anwohnerparken?
(13): Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht