Der Klimacamp-Blog (37): Die Sache mit dem grünen Wachstum

Im Beitrag über planetare Grenzen hatten wir gesehen, dass der Ressourcenverbrauch ein Maß ist, um alle ökologischen Probleme gleichzeitig zu messen. Und dass er trotz bereits zahlreicher überschrittener planetarer Grenzen weiterhin exponentiell wächst. Dass das so ist, ist tatsächlich kein Zufall. Denn neben dem Ressourcenverbrauch, den weltweiten CO2-Emissionen und der Zahl der Coronainfizierten, wächst auch unsere Wirtschaft exponentiell. Und das hat Folgen.

In den vergangen 200 Jahren ist die weltweite Wirtschaft pro Jahr im Schnitt um drei Prozent gewachsen. Eine drei Prozent größere Weltwirtschaft bedeutet, dass beispielsweise in diesem Jahr etwa die gesamte Wirtschaftsleistung Großbritanniens noch einmal dazu kommt. Außerdem bedeutet diese Steigerung, dass sich das globale Wirtschaftsvolumen alle 25 Jahre verdoppelt und sich in einem Jahrhundert um das 16-fache erhöht. Da Ressourcenverbrauch und die Wirtschaftsgröße gekoppelt sind, bedeutet das, dass wir in 100 Jahren sage und schreibe 16 mal so viele Ressourcen verbrauchen werden, um circa 16 mal so viele Güter herzustellen wie heute. Da wir momentan bereits doppelt so viele Ressourcen verbrauchen als mit einem langfristigen Überleben auf dem Planeten vereinbar, ist das erstmal keine gute Nachricht.

Korrelation zwischen weltweitem Bruttoinlandsprodukt (engl.: GDP), Ressourcenverbrauch (MF: Material Footprint) und CO2-Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen und Industrie.

Die gesamte Menge an von Menschen produzierten Dingen übersteigt seit 2020 das Gesamtgewicht der gesamten Biomasse.

Die zentrale Frage ist: Kann man den Ressourcenverbrauch vom Wirtschaftswachstum entkoppeln? Falls nicht, sind in einer wachsenden Wirtschaft alle Umweltschutzstrategien zum Scheitern verurteilt. Dann müsste die gesamte Wirtschaft so umstrukturiert werden, dass sie nicht mehr weiter wachsen muss und sogar schrumpfen kann. Ansonsten ist bereits jetzt absehbar, dass unsere Zivilisation irgendwann in den nächsten Jahrzehnten ökologisch kollabiert und Milliarden Menschen dadurch sterben.

Momentan verfolgen fast alle Staaten der Welt eine Strategie, mit der Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppelt werden sollen. Das Konzept: Die Wirtschaft soll wie eh und je exponentiell anwachsen dürfen, weil der Ressourcenverbrauch durch technologischen Fortschritt und effizientere Stoffströme rasant reduziert wird, die Wirtschaft also nachhaltig wächst. Aber geht das?

Da wir auf diese Entkopplungsstrategie setzen, sollten die Beweise dafür, dass der Ansatz auch funktioniert, besser ziemlich gut sein. Wichtig dabei ist, dass der Ressourcenverbrauch dauerhaft und schnell vom Wachstum entkoppelt wird – denn nur dann lässt sich der ökologische Kollaps vermeiden (die grüne Kurve im Bild unten). Dieser Frage sind Wissenschaftler:innen mittlerweile in hunderten von Analysen nachgegangen.

Sie zeichnen ein sehr kohärentes Bild. Ergebnis: Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Entkopplung in naher Zukunft sehr unwahrscheinlich ist. So veröffentlichte die Europäische Umweltagentur 2019 eine Zusammenfassung der meisten Analysen unter dem bereits sehr aufschlussreichen Titel „Entkopplung entlarvt“ („Decoupling debunked“). Darin heißt es in deutlichen Worten:

„Die Schlussfolgerung ist so überwältigend eindeutig wie auch ernüchternd: Es gibt keine empirischen Hinweise für eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung in der Größenordnung, die nötig wäre, um einen Umweltkollaps zu vermeiden. Und was vielleicht noch wichtiger ist: es erscheint unwahrscheinlich, dass solch eine Entkopplung in Zukunft passiert.“

Was das bedeutet, schreiben die Autor:innen der Europäische Umweltagentur so: Wer „auf Entkopplung als alleinige Strategie“ zur Lösung der Umweltprobleme setze, gehe „ eine extrem risikoreiche und unverantwortliche Wette“ ein. „Sozial-ökologische Gerechtigkeitsprobleme mit dem Konzept der Entkopplung zu lösen ist, wie wenn man versucht, einen Baum mit einem Löffel zu fällen: Es ist ein langer Versuch, der am Ende höchstwahrscheinlich scheitern wird.“

Der Unterschied zwischen Kopplung, relativer Entkopplung, absoluter Entkopplung und ausreichend schneller Entkopplung um einen ökologischen Kollaps zu vermeiden.

Manche Technikfans werden sich jetzt wundern. Aber was ist mit effizienteren Technologien? Warum helfen sie nicht den Ressourcenverbrauch zu reduzieren?

Die Sache mit dem Wachstum ist die: Viele unserer Techniken sind heute deutlich effizienter als früher. Nur werden diese Einsparungen genutzt, um noch mehr zu produzieren. Das ist übrigens keine neue Entdeckung: Bereits 1865 stellte der Ökonom William Jevons verwundert fest, dass der Verbrauch an Kohle trotz der von James Watt weiterentwickelten, deutlich effizienteren Dampfmaschine nicht sank. Im Gegenteil – er stieg. Denn die Einsparungen wurden wieder reinvestiert, um die Produktion auszuweiten..

Rücklaufende Recyclingrate

Aber was ist mit Recycling? Hier gilt: Recycling ist wichtig. Aber zu hoffen, dass wir in einer wachsenden Wirtschaft den gesamten wachsenden Ressourcenverbrauch durch Recyceln der bereits verarbeiteten Ressourcen decken, ist in sich unlogisch. Nur ein kleiner Teil unserer Rohstoffe kann überhaupt recycelt werden, und selbst diesen kleinen Teil werden wir niemals zu 100 Prozent recyclen können. Denn dafür müssten ja alle Rohstoffe wiedergewonnen werden. Bei einer Schuhsohle zum Beispiel verteilt sich der Abrieb unwiederbringlich in der Umwelt; zudem müssten auch 100 Prozent aller Kund:innen ihre Schuhsohlen zum Recyceln schicken und der Prozess dann eine 100-prozentige Wiederverwertung ermöglichen und dieselbe Qualität wie das ursprüngliche Material erzielen. Und selbst in diesem praktisch unmöglichen Fall müsste immer noch zusätzliche Energie aufgewendet werden. Im übrigen hat sich die weltweite Recyclingrate von 9,1 Prozent im Jahr 2018 auf 8,6 Prozent im Jahr 2020 verschlechtert. Und zwar nicht, weil etwa Recyclingfabriken dicht gemacht hätten und weniger recycelt worden wäre, sondern weil der Ressourcenverbrauch schneller anstieg als zusätzliche Recycingfortschritte.

Die Liste an Argumenten könnte fortgeführt werden. Der einzige Grund, warum es manchmal doch so aussieht, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch, hat mit der Tatsache zu tun, dass regionale Erfolge häufig durch eine Auslagerung der Produktion in andere Länder erreicht werden. Wenn man solche buchhalterische Tricks weglässt, ist nichts erreicht.

Trotz alldem verfolgt die EU seit 2001 als Hauptumweltziel eine Entkopplungsstrategie – ohne jeden Erfolg. Sie setzt – wie es die Europäoche Umweltagentur formulierte – auf eine extrem risikoreiche und unverantwortliche Wette, die aller Voraussicht nach scheitern wird. Mit gewaltigen Kosten für uns alle. Es wird höchste Zeit, dass wir einen Weg aus dem Wachstum beschreiten. Oder um es mit den Worten der Europäischen Umweltagentur zu sagen: „Vom Erfolg dieser Initiative [dem Aussteig aus dem Wachstumsmodell (Anm. des Autors)] hängt die Zukunft unserer Kinder und Enkel, um nicht zu sagen der gesamten menschlichen Zivilisation, ab.“

Text: Manuel Oestringer von der Klimacamp-Redaktion
Bild (Wirtschaftswachstum beschleunigt auch den Welthandel: mit Schweröl unterwegs auf der Elbe): Pit Wuhrer
Grafiken: (1) Wiedmann, T., Lenzen, M., Keyßer, L.T. et al. Scientists’ warning on affluence. Nat Commun 11, 3107 (2020). https://doi.org/10.1038/s41467-020-16941-y; (2) https://www.visualcapitalist.com/visualizing-the-accumulation-of-human-made-mass-on-earth/ (3) Kate Raworth. Die Grafiken hat das Klimacamp zur Verfügung gestellt.

Über die klimatischen Folgen des Wachstumswahns informiert der nächste Klimacamp-Blog.

Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht