Der Klimacamp-Blog (66): Weniger ist mehr
Ende März erschien im Oekom-Verlag die deutsche Ausgabe eines der wichtigsten Bücher zur aktuellen Klimadebatte: „Weniger ist mehr“, lautet der Titel. Noch konkreter ist der Untertitel: „Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind.“ Manuel Oestringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion hat das Buch gelesen.
Vor rund einem Jahr wurde ich gebeten, einen großen Vortrag über Klimagerechtigkeit zu halten. Ich sagte zu, bemerkte aber bald darauf, dass ich noch etwas ratlos war: Was wollte ich eigentlich erzählen? Denn bis dahin hatte ich den Gerechtigkeitsaspekt in meinem Klimaaktivismus immer recht vernachlässigt. Schließlich ist die Geschichte so offensichtlich ungerecht, dass man da eigentlich gar nicht groß drüber reden muss. Relevanter ist, dass selbst jene, die die Krise verursachen, unter ihr leiden werden – und nicht nur diejenigen, die am wenigsten dafür können.
So war meine Einstellung damals. Doch im Zuge der Vortragsvorbereitung versuchte ich mich an der Frage zu orientieren: Warum können wir die Klimakrise nur lösen, wenn wir den Gerechtigkeitsaspekt berücksichtigen? Die Frage ist spannend, doch Antworten findet man gar nicht so einfach, wie es für eine so zentrale Frage eigentlich sein sollte. Und wenn man sich an ihr entlanghangelt, landet man zwangsläufig bei Fragen nach Macht, Reichtum und unserem Wirtschaftssystem – und ist damit mitten in einem riesigen Themenkomplex, in dem man sich leicht verirren kann.
Das Buch, dass mir am meisten dabei half, den Weg aus diesem Dickicht zu finden, ist das wunderbare Buch von Jason Hickel: „Weniger ist mehr – warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind“. In diesem Buch, das ich damals auf Englisch las, erzählt der Londoner Anthropologie und Wirtschaftsprofessor Hickel die Geschichte des vorrangig englisch geprägten Kapitalismus. Wie sind wir dahin gekommen, wo wir jetzt stehen –inmitten einer sozialen und ökologischen Doppelkrise? Und wie können wir diese Krisen lösen?
Die Grundlagen der Industrialisierung
Hickel beschreibt die Geschichte ungeschönt als Geschichte von Gewalt, Ausgrenzung und Unterdrückung. Er beginnt mit der Ermordung von Millionen Menschen in Südamerika im frühen 15. Jahrhundert und der zeitgleich in Europa einsetzenden Privatisierung von gemeinschaftlichen Landeigentum (die sogenannten Enclosures): Damals wurden viele Bauern von ihren Feldern vertrieben und landeten als neue, verarmte, mittellose Klasse in den frühkapitalistischen Städten. Auf diese Weise wurde die Arbeiterklasse geschaffen, die unter erbärmlichen Bedingungen die zu großen Teilen von den Kolonien geraubte Materialien wie Baumwolle und Zucker verarbeitete und verbrauchte. Die Kolonien trugen somit entscheidend zur Industrialisierung bei.
Ausführlich beschreibt Hickel in seinem Buch, wie sich diese Ausbeutungsmuster durch die ganze Geschichte des Kapitalismus ziehen und das vielgepriesene Wirtschaftswachstum, das in dieser Zeit begann, bis heute nur durch ständige Ausbeutung von Mensch und Natur funktioniert. Aus Kolonialismus wurde im 20. Jahrhundert der Neokolonialismus, doch das grundlegende Prinzip bleibt bis heute.
Zeitgleich mit der Verarmung eines großen Teiles der Bevölkerung entstand mit dem Cartesianismus eine neue Philosophie, die den Körper und Geist voneinander trennte und die psychologische Grundlage für die bis dahin in diesem Maße unbekannte Umweltzerstörung und Ausbeutung legte.
Schritte aus dem Wachstumswahn
Besserung trat erst ein, als gesellschaftliche Bewegungen, allen voran Arbeiterkämpfe und Sklavenrevolten, es schafften, grundlegende Rechte einzufordern wie demokratische Teilhabe, bessere Arbeitsbedingungn und eine öffentliche Daseinsvorsorge. Konsequent widerlegt Hickel in dem Buch die gängige Mär, der Kapitalismus hätte uns Demokratie und ein langes Leben gebracht und hält dagegen: Nicht der Kapitalismus, sondern gesellschaftliche Bewegungen, die dem Kapitalismus diametral entgegenstehen, haben uns diese Grundrechte erkämpft.
Nachdem er so die Geschichte des Kapitalismus entzaubert hat, legt Jason Hickel nach. Anhand von zahlreichen Studien zeigt er auf, dass weiteres Wirtschaftswachstum und das Überleben der Menschheit unvereinbar sind. Und löst das geschaffene Dilemma auf, indem er eine Schritt für Schritt Anleitung für den Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum liefert, die gleichzeitig unsere Lebensqualität steigern.
Jason Hickel folgt in seiner Beschreibung dem Mainstream der Postwachstumsliteratur. Seine Anleitung folgt grob drei Schritten: Reduktion von Verschwendung (Stopp von geplanter Obsoleszenz, Einschränkung von Werbung etc.), Verringerung und gerechte Verteilung der verbleibenden Arbeit (wichtigste Maßnahmen hier: Jobgarantie) und zentrale, systemische Begleitmaßnahmen, wie der Aufbau effizienter Versorgungssysteme, ein Schuldenschnitt und ein anderes Geldsystem.
Viele Quellen
Viele, leider häufig öffentlich bekannte Postwachstumsvertreter, reden sehr substanzlos über den Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, ohne sich mit der Forschungsliteratur zu dem Thema auseinandergesetzt zu haben. Hickel ist hier anders: Er stößt die Tür in eine neue Wirtschaft weit auf, indem er aus zahlreichen Quellen zitiert und aufzeigt, dass es eine sehr aktive Forschungsgemeinschaft gibt, die bereits seit Jahren viele wichtige Erkenntnisse gewonnen hat, wie unser Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum gelingen kann.
Besonders hilfreich war für mich, dass alle Quellen gut gekennzeichnet sind und ich den Quellen folgen konnte in eine für mich bis dahin unbekannte Forschungswelt, die dann auch wieder neue, spannende Türen offen hält, um weitere Fragen zu beantworten.
Kritikpunkt meinerseits ist, dass manche Quellen über die Einordnung verschiedener historischer Ereignisse wie zum Beispiel die Rolle der Hexenverbrennung in der Entstehung des Kapitalismus nach meinen Recherchen umstritten sind. Ich vermute jedoch, dass sich das nicht vermeiden lässt, wenn man im großen Stil gängige Narrative widerlegt und eine kürzere, aber auch neue Geschichte der Menschheit erzählt. In den wichtigen Aussagen des Buches sind die Quellen jedoch sehr solide, insbesondere in der zentralen Menschheitsfrage, ob weiteres weltweites Wirtschaftswachstum vertretbar ist. Etwas schade ist noch, dass das Thema Postwachstum in Städten und Regionen nicht mehr separat aufgegriffen wird und die Umsetzung der Maßnahmen fast durchwegs viel politische Macht benötigt. Es gelingt dadurch nicht, den Weg aufzuzeigen, wie politische Bewegungen die Umstellung unseres Wirtschaftssystems von unten her erkämpfen können.
Alles in allem kann ich dieses Buch aber sehr empfehlen. Trotz der gewaltigen Mengen an Infos ist es Jason Hickel gelungen, dieses Wissen in 350 leicht und locker lesbare Seiten zu packen. Ich bin bis jetzt keinem anderen Buch begegnet, das es schafft, derart fundiert aufzuzeigen, wie es uns noch gelingen kann, auf dem Planeten zu überleben. Meiner Meinung nach eine der wichtigsten Lektüren, wenn Menschen verstehen wollen, wie wir hierhergekommen sind und was wir jetzt noch tun können.
Übrigens finden sich auf Jason Hickels Webiste auch viele von ihm geschriebene Blog- und Zeitungsartikel sowie all seine veröffentlichten Studien und Podcasts an denen er teilgenommen hat. Eine tolle Fundgrube.
Jason Hickel: „Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind.“ Oekom Verlag, München 2022. 352 Seiten, 24 Euro.
Text: Manuel Oestringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Grafik: Sie zeigt das ungebremste Wachstum anhand des Bruttoinlandprodukts der letzten fünfzig Jahre. Quelle: Statistisches Bundesamt. Fotos: Pit Wuhrer
Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht