Der Klimacamp-Blog (82): Noch ist es nicht zu spät
Rund tausend Menschen zogen am Freitag, am globalen Klimastreiktag, durch Konstanz. Sie forderten unter dem Motto #PeopleNotProfit, dass der Erhalt unserer Lebensgrundlagen und der Schutz aller Menschen endlich über finanzielle Interessen gestellt werden.
„Wir erleben gerade, dass die Ampel-Koalition genau das Gegenteil tut von dem, was nötig wäre, um die Erderhitzung noch irgendwie abzufedern und unter der 1,5-Grad-Grenze zu halten“, sagte Johanna Fähnrich von Fridays for Future Konstanz. „Während im globalen Süden Menschen durch Überflutungen ihr Zuhause verlieren oder infolge der extremen Dürren nichts mehr zu essen haben, investiert unsere Regierung weiter in den Ausbau fossiler Energieträger.“ Damit heize sie die Klimakrise weiter an und nehme willentlich das Leid und den Tod unzähliger Menschen in Kauf: „Das ist schockierend“.
Zu den Redner*nnen der Auftaktkundgebung im Herosé-Park gehörte auch Frank Best, Professor an der HTWG-Konstanz. Hier seine Ausführungen:
Super, dass heute wieder so viele von Euch hier sind! Weltweit demonstrieren in Hunderten Städten wieder Millionen von Menschen für Klimaschutz undKlimagerechtigkeit!
Meine Name ist Frank Best, ich spreche heute zu Euch als Mitglied der Scientists for Future. Ich war Gutachter für den letzten Bericht des Weltklimarats, bin auch bei den Parents for Future und Konstanz klimapositiv 2030 aktiv. Als erstes spreche ich allerdings als Mensch, als Vater zweier Kinder, dem die Zukunft dieser Welt am Herzen liegt.
Was gibt es Neues aus den Wissenschaften?
So richtig grundlegend Neues?
Eigentlich nicht viel.
In den letzten Monaten ist der 6. Bericht des Weltklimarats erschienen. Seit 1990 erstellt der Weltklimarat alle paar Jahre eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands zum Thema Klima. Die Berichte des Weltklimarats sind mit jeder neuen Auflage umfassender, präziser, detaillierter, sicherer geworden, aber die grundlegenden Erkenntnisse rund um die Erderhitzung haben sich nicht geändert.
Mit dem gravierenden Unterschied, dass über die Jahre in vielen Bereichen aus der Zukunftsform – „die Treibhausgaskonzentration wird steigen, die Erde wird sich erwärmen“ inzwischen die Vergangenheitsform geworden ist – „sind gestiegen, hat sich erwärmt“. 30 Jahre nach dem ersten Weltklimabericht sehen wir, wie sich die prognostizierte Klimakrise langsam vor unseren Augen entfaltet. Die letzten 24 Monate waren weltweit geprägt von Hitzewellen, Dürren, Ernteausfällen, Waldbränden, Überflutungen, Gletscherschmelze usw. usf.
Und auch wenn es zwischendurch mal ein paar kühlere Jahre geben sollte: Der langfristige Trend der globalen Erwärmung ist weiterhin ungebrochen. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Extrem-Ereignisse häufiger eintreten und immer schwerwiegender werden, wird mit jedem Zehntelgrad Erwärmung höher.
Dadurch, dass so viel Zeit vertan wurde, muss die Reduzierung vonTreibhausgasemissionen in den nächsten Jahren viel, viel schneller gehen!
Auch die Gegenmaßnahmen liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch – um nur ein paarBeispiele zu nennen:
• Stopp aller Subvention von Öl, Kohle, Gas und eine hohe Bepreisung der Verbrennung. Zugegeben, das muss jetzt nicht unbedingt mitten in einer Energiekrise passieren, hiergeht es ums mittelfristige Prinzip. Die aktuelle CO2-Bepreisung macht übrigens beim Gas weniger als einen Cent pro kWh aus.
• Rückgabe der Einnahmen zur finanziellen Entlastung an die Bevölkerung.
• Ersatz fossiler Brennstoffe durch Erneuerbare Energien.
• Umstellen der Industrie auf Elektrifizierung, Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe,je nach Anwendung.
• Reduzierung der Massentierhaltung und des Konsums tierischer Lebensmittel
Es wird immer teurer
Billig ist so ein Umbau der Gesellschaft sicher nicht, aber der letzte Bericht macht auch deutlich: Die Schäden, die die Erwärmung bereits verursacht und noch verursachen würde, werden deutlich teurer werden als alle Klimaschutzmaßnahmen – von der Zerstörung der Natur, dem Artensterben und Millionen von Toten mal ganz abgesehen, die man finanziell gar nicht ernsthaft beziffern kann.
Was wir verstehen müssen ist, dass fossile Energieträger für die Allgemeinheit nicht nur teuer, sondern auch lebensbedrohlich sind – das gilt schon heute für viele Hundertausende Menschen, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. Deshalb muss Klimaschutz auch immer Klimagerechtigkeit bedeuten!
Was wir tun können, ist seit Jahren bekannt. Warum aber dringen wir mit den Fakten, die in den Wissenschaften unstrittig sind, zu vielen Menschen nicht durch? Das hat verschiedene Gründe.
Kurz gesagt: Wir Menschen neigen dazu, unbequeme Tatsachen zu verdrängen, tiefgreifende Veränderungen erstmal misstrauisch zu betrachten und kurzfristige Vorteile über langfristige zu stellen. Manche Menschen haben Angst um ihre Jobs, um ihren Lebensstil, um ihre Existenz. Das sollten wir auch in der Kommunikation ernst nehmen und nicht einfach abtun.
Die Politik wiederum, die an den Stellschrauben drehen muss, denkt oft nur bis zur nächsten Wahl – was wir aber benötigen, sind langfristige Investitionen in die Zukunft.
Desinformations- und Angstkampagnen
Das alles sind Tatsachen, die die fossile Industrie und ihre Profiteure seit den 1980er Jahren gnadenlos für ihre Zwecke ausgenutzt haben. Es wurde auf allen gesellschaftlichenEbenen eine rücksichtlose und umfassende Desinformations- und Angstkampagne gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und auch direkt gegen Forscher und Forscherinnen gefahren, um Veränderungen zu verhindern oder zumindest zu verzögern und so den eigenen Profit zu sichern.
Was wir vor uns haben, ist also nur auf den ersten Blick ein naturwissenschaftliches Problem, es ist in erster Linie ein gesellschaftspolitisches Problem – das Problem einer globalen Gesellschaft, die sich seit 200 Jahren mit kurzfristigem Denken und einer Verlagerung der tatsächlichen Kosten in die Zukunft in eine Sackgasse manövriert hat.
Energieerzeugung, Infrastruktur, Heizen, Mobilität und Ernährung wurden über hundert Jahre praktisch ausschließlich auf fossile Energien ausgerichtet, die scheinbar billig waren. Da jetzt wieder rauszukommen, ist ein gesellschaftlicher Kraftakt.
Die Lüge vom „individuellen Fußabdruck“
Ich kann übrigens sehr gut nachvollziehen, wenn man als Klimaaktivist*in nach Jahren der Anstrengungen und den vielen Anfeindungen, denen man teilweise ausgesetzt ist, frustriert oder verzweifelt wird. Die Aufgabe erscheint überwältigend, und keiner kann sie allein lösen. Auch das war übrigens Teil der Propagandakampagnen der Öllobby – die Verantwortung für ein gesamtgesellschaftliches Problem über den „individuellen CO2-Fußabdruck“ auf die einzelne Person abzuschieben und damit die Verantwortung der Konzerne und der Politik zu relativieren.
Das heißt natürlich nicht, dass Ihr alle ab jetzt fünf Mal im Jahr fliegen sollt. Jeder soll persönlich tun, was man kann, aber man muss sich auch nicht selber geißeln oder verurteilen. Es ist in unserer Gesellschaft praktisch unmöglich, klimaneutral zu leben. Man muss nicht perfekt sein, um Veränderungen fordern zu dürfen! Das Problem ist nicht individuell, sondern nur gesellschaftlich zu lösen.
Und die gesellschaftliche Stimmung ändert sich weltweit immer mehr. Wir stehen vor einem gesellschaftlichen Kipppunkt hin zu einer klimaneutralen Welt. Je mehr Menschen mitmachen, desto schneller können wir die notwendigen Veränderungen erreichen!
Nicht nur kurzfristig denken!
Weltweit werden die Stimmen immer lauter, die die notwendigen Veränderungen einfordern! In den USA hat Präsident Joe Biden im August ein historisches Klimapaket durch den US-Senat gebracht. Reicht nicht, ist aber ein Schritt in die richtige Richtung. In China wurde 2021 der weltgrößte Emissionshandel eingeführt und die Erneuerbaren werden massiv ausgebaut. Reicht nicht, ist aber ein Schritt in die richtige Richtung! Indien hat in 2021 ein Covid-Wiederaufbaupaket erlassen, in dem doppelt so viel Geld für den Ausbau Erneuerbarer Energie wie für fossile Energien vorgesehen ist. Reicht nicht, ist aber ein richtiger Schritt.
Und ja, viele Länder bauen auch weiterhin Kohle und Gas aus – und wir müssen nun auch Kohlekraftwerke länger laufen lassen. Alle Maßnahmen zusammen genommen reichen heute noch nicht aus. Aber es sind alles Schritte in die richtige Richtung. Wir sollten nicht den gleichen Fehler machen und nur kurzfristig denken. Die Veränderung der Gesellschaft ist ein Marathon, kein Sprint! Wenn wir gemeinsam Seite an Seite weitermachen, können wir es schaffen!
Wir alle haben ein gemeinsames Ziel – eine saubere, nachhaltige und gerechte Gesellschaft und Wirtschaft! Lasst uns also nicht aufgeben, sondern gemeinsam weiterkämpfen! Wir geben nicht auf!
Hier ein kurzer Blick auf die wichtigsten Forderungen, dargestellt am Klimastreiktag in Konstanz:
Fotos: Pit Wuhrer
Die Klimacamp-Blogs werden von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(81) Es brennt
(80) Weder Kinderkram noch Grüne RAF
(79) Gefährliche Eingriffe?
(78) Die Hoffnung stirbt, die Aktion beginnt
(77) Harakiri oder Amoklauf?
(76) Mehr Gas beim Klimaschutz, weniger in der Leitung
(75) Motorboot fährt Klima tot
(74) Es geht weiter!
(73) (K)ein Grund zu feiern
(72) Ein Jahr Klimacamp
(71) Große Hektik, wenig Zukunft
(70) Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe?
(69) Warm- oder Kaltbaden? Ein Dilemma
(68) Der klimaneutrale Weinhändler
(67) Was der Deutschlandfunk berichtet
(66) Weniger ist mehr
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht